Konzentration des Grotesken

Was man von Vladimir Sorokin unter anderem lernen kann: Fiktion kann gar nicht so grotesk sein, dass sie nicht irgendwann von der Realität eingeholt wird. Man denke nur an die Causa Kurz/Schmid.

Harry Bergmann
am 24.10.2022

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Vladimir Sorokin | Foto: Haemmerli | Wiki Commons | CC BY-SA 4.0

Ich komme wieder einmal von woanders her. Diesmal aber nicht von so weit her, wie sonst. Nicht von Israel, sondern vom Waldviertel. Genauer gesagt von Heidenreichstein, vom Literaturfestival „Literatur im Nebel“. Jedes Jahr ein berühmter Autor oder eine berühmte Autorin, jedes Jahr berühmte Schauspieler oder andere Schriftsteller, die ausgewählte Texte des berühmten Autors oder der berühmten Autorin lesen. Jedes Jahr Nebel.

Diesmal Vladimir Sorokin. Höchstwahrscheinlich der bedeutendste russische Schriftsteller der Gegenwart. Ich muss gestehen, ich hatte bisher nichts von ihm gelesen. Also wusste ich auch nicht, was mich erwartet. Jetzt suche ich nach einem Wort, dass annähernd meinen Zustand zu seinen Texten beschreibt. Ich entscheide mich für „Faszination“.

Sorokin schreibt dystopische, überhöhte, phantasie-gespinstische Utopien von einer roten Pyramide, die den gesamten Roten Platz zudeckt, die aber keiner sehen kann, die ganz Russland mit geheimen Botschaften beschallt.

Er schreibt vom blauen Hirn Stalins, das wächst und wächst, bis es so groß ist, wie alle Galaxien zusammen um schließlich in einem schwarzen Loch zu verschwinden.

Er schreibt von kilometerlangen Menschenschlangen, die sich zum Kauf von Dingen bilden, um etwas zu kaufen, was man gar nicht braucht, um es dann für Dinge, die andere nicht brauchen einzutauschen.

Er schreibt fiktionale Plots, die realistischer nicht sein können.

Er schreibt über ein Russland, dessen gegenwärtigen Zustand er als eine unerträgliche Konzentration des Grotesken bezeichnet.

Aber jetzt schreibt Sorokin gar nicht. „Man kann nicht schreiben, wenn Krieg ist.“ Schreiben beginnt wieder, wenn „die Ukraine hoffentlich den Krieg gewonnen hat“. Wie dieser Sieg der Ukraine aussehen kann, weiß aber nicht einmal er, der literarische Maestro der vorweggenommenen Zukunft.

Als ich von der „Konzentration des Grotesken“ hörte, fiel mir ein Land fünfhundert Kilometer westlich der Ukraine ein. Unsere schöne, von allen guten Geistern verlassene Alpenrepublik.

Hier, wo Telefonate mitgeschnitten werden, wer wieviel bei wem mitgeschnitten hat.

Und weil mir nach zwei Tagen Sorokin das stinknormale Groteske nicht mehr genügt, habe ich ein mega-groteskes Protokoll eines nicht ganz fiktionalen Telefonats niedergeschrieben:

Das Handy vibriert. Thomas liest „ILMK“ am Display und beginnt ebenfalls zu vibrieren. „Das … ist … doch … nicht … möglich“, stammelt er innerlich. Er stammelt in den letzten Monaten sehr oft innerlich. Vor allem dann, wenn ihn seine dunkle Vergangenheit einholt. Und diese vier Buchstaben I, L, M und K sind aus seiner Vergangenheit. „Die habe ich doch schon vor einem Jahr gelöscht. Wieso sind die noch immer auf meinem Handy?“. „Ja, Thomas“, sagt eine andere Stimme in seinem Kopf „das wirst Du nie mehr los und – ehrlich gesagt – hast Du auch nichts Besseres verdient.“ „Ich liebe ihn aber nicht mehr! Ich schwöre, ich liebe ihn nicht mehr“, ruft er – innerlich händeringend – allen seinen inneren Stimmen zu.

Thomas hätte sich nie vorstellen können, dass diese Worte jemals über seine inneren Lippen kommen würden. Über die äußeren ohnehin nicht. Er hatte ihn wirklich geliebt und er hatte es ja auch jedem, der es hören wollte oder auch nicht, euphorisch entgegengejubelt: „ICH LIEBE MEINEN KANZLER!“ Und genau so hatte er seinen Kanzler auch in sein Telefonverzeichnis eingetragen: ILMK. Wenn es dem Kanzler beliebte, ihn anzurufen, oder er es wagte den Kanzler anzurufen konnte er die Abkürzung dieser Liebeserklärung auf seinem Display lesen, dort, wo er sonst nur seine imposante Fotosammlung betrachtete.

Das Handy vibriert noch immer und fängt an auf der glatten Tischplatte herumzutanzen. Thomas fasst einen Entschluss. Er nimmt den Anruf an. „Bist Du deppert, Du Oarsch?!“ schreit es ihm sofort entgegen. „Du bist ärger als der Mitterlehner!“. Die Stimme, die dem Ex-Ex-Kanzler gehört, kriegt sich nicht mehr ein: „Für das Mitterlehner-Oarsch habe ich mich noch entschuldigt, bei Dir entschuldige ich mich sicher nicht, Du Oarsch!“ In dieser Tonart geht es weiter. Sebastians Stimme überschlägt sich: „Was willst Du sein? Ein Kronzeuge willst Du sein? Ein Kronleuchter bist Du, Du Armleuchter.“

Thomas zerknirscht. „Wir hätten das nicht tun dürfen, Sebastian. Wir sind zu weit gegangen. Ich meine, Du bist zu weit gegangen. Ich bin ja nur mitgegangen. Ich wäre überall hingegangen – äh, mitgegangen – wo Du hingegangen bist. Ich wünschte nur, dass ich schneller gegangen wäre, dann hätten mich die Skandale nicht immer eingeholt.“

Sebastian, der plötzlich ruhig aber seltsam überdeutlich spricht: „Eins, zwei drei, Sprechprobe. Eins, zwei, drei, Sprechprobe. Hört man mich deutlich?“ Er bekommt von dem völlig verdutzten Thomas keine Antwort, also geht er jetzt einfach davon aus, dass man ihn deutlich hört und setzt fort: „Du lügst. Du weißt, dass ich weiß, dass Du lügst. Ich weiß, dass Du weißt, dass ich weiß, dass Du lügst. Und vor allem: Du weißt, dass ich weiß, dass Du weißt, dass ich weiß, dass Du lügst.“

Thomas verunsichert: „Warum sagst Du das?“ Sebastian, der spürt, dass er Oberwasser hat: „Warum ich das sage? Weil ich immer die W-a-h-r-h-e-i-t sage. Die W-a-h-r-h-e-i-t. So bin ich erzogen. Ich schreibe auch die Wahrheit. Jetzt ist übrigens ein neues Buch von mir herausgekommen. Da kann man für weniger als 25 Euro alle meine Wahrheiten nachlesen. Das kann ich nur allen warmherzig empfehlen. Auch Dir, Du Oarsch.“

Thomas mit leiser, gebrochener Stimme: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten, Sebastian. Ich musste mit jemanden reden. Ich habe mich nicht getraut Dich anzurufen. Da habe ich den Sobo angerufen. Der hat mich sofort angeschrien, als ob ich ein Roter im Untersuchungsausschuss wäre. Ich soll sofort wieder auflegen, sonst legt er mir eine auf. Und dann hat er noch schnell was von einem Gegengeschäft gefaselt, aber nicht mit wem.“

„Und dann rufst Du bei der Staatsanwaltschaft an, Du Vollkoffer, Du?“

Thomas versucht zu erklären: „Die haben mir ja das Handy abgenommen und ich habe keine gespeicherten Nummern mehr gehabt. Da habe ich dann auf einer Nummer zurückgerufen – und patsch – war ein Staatsanwalt dran. Sehr nett. Sehr lieb, wie der mit mir gesprochen hat. Und der hat mir dann gesagt, dass wir ein Gegengeschäft machen können. Und da habe ich geglaubt, dass das das Gegengeschäft ist, von dem der Sobo gesprochen hat und habe Ja gesagt.“

„Sprich mir einfach nach, laut und deutlich … “ Sebastian wird selbst immer lauter. Thomas wundert das, aber er denkt sich, dass die Nerven vom Basti blank liegen, wofür er größtes Verständnis hat. Thomas hat immer größtes Verständnis. „Also sag‘ ohne Unterbrechung: Du mein ex-geliebter Ex-Kanzler hattest von nichts eine Ahnung. Weder hast Du was beauftragt, noch weißt Du, was ein Inserat ist. Ich entschuldige mich bei Dir, dass ich gelogen habe, obwohl ich von Dir immer alles bekommen habe, was ich wollte. Ich bin ein doppelt so großer Oarsch, wie der Mitterlehner und gehöre hinter Gitter.“

Noch etwas habe ich bei Sorokin gelernt: so grotesk kann eine Fiktion gar nicht sein, dass sie nicht irgendwann von der Realität eingeholt wird. Bitte achten Sie daher bei Ihren nächsten Telefonaten auf verdächtige Nebengeräusche beziehungsweise auf ein seltsames Verhalten ihres Telefongegenübers.

Meint,

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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