Die Kragenweite

Eigentlich sind Wahlen heutzutage mehr oder weniger Vergleiche der Kragenweiten von Kandidaten. Ist dieses oder jenes Amt seine oder ihre Kragenweite oder nicht?

Harry Bergmann
am 08.10.2022

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Paul Newman oder Steve McQueen? Nein, es ist Israels Verteidigungsminister Benni Ganz. Foto: Kampagne

„Ihm nach!“ steht da auf dem Plakat und daneben das Porträt eines Mannes. Eines wirklichen Mannsbilds, wenn man das heute überhaupt noch so sagen darf. Marke Paul Newman oder Steve McQueen. Kantiges, braun gebranntes Gesicht, kurze graue Haare, blaue Augen, entschlossener Blick. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen: „Amerikanischer Filmstar, der einen israelischen Generalstabschef spielt.“

Aber ich weiß es besser. Ich kenne ihn persönlich. Es ist Benni Ganz. Er war tatsächlich der israelische Generalstabchef, ist der derzeitige Verteidigungsminister und spielt einen amerikanischen Filmstar. Denn es ist Showtime in Israel. Die fünfte Wahl in drei Jahren. Und wenn es diesmal endlich etwas werden soll, da kann man sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, schon gar nicht im Heiligen Land.

Es ist nicht etwa so, dass die Israelis so gern wählen oder nichts Besseres zu tun hätten, als ständig zu den Wahlurnen zu rennen, nein. „Alles ist sehr kompliziert“, wie schon vor langer Zeit Bundeskanzler Fred Sinowatz festgestellt hat.

Im Zusammenhang mit dieser israelischen Wahl – und nicht nur in diesem Zusammenhang, sondern mit dem generellen Zustand unserer heutigen Welt – zahlt es sich aus, das komplette Zitat von Sinowatz ins Gedächtnis zu rufen: „Ich weiß schon meine Damen und Herren, das alles ist sehr kompliziert, so wie diese Welt, in der wir leben und handeln, und die Gesellschaft, in der wir uns entfalten wollen. Haben wir den Mut, mehr als bisher auf diese Kompliziertheit hinzuweisen, zuzugeben, dass es perfekte Lösungen für alles und jeden in einer pluralistischen Demokratie gar nicht geben kann.“

Sehr gescheiter Mann.

Vielleicht lesen Sie das hier, wenn Österreich schon einen neuen Bundespräsidenten hat. Und es wird der alte Bundespräsident sein und wenn er es nicht gleich ist, dann halt nach der Stichwahl. Und Sie würden lieber etwas über diese Wahl lesen, weil es Sie natürlich mehr betrifft. Aber was soll ich dazu noch sagen, was nicht schon hundert Mal gesagt worden ist über diesen anständigen Mann, der nichts sagt, wenn er etwas sagen sollte, obwohl er etwas zu sagen hätte? Und außerdem weiß ich gar nicht, warum Sie die Wahl in Israel nicht doch etwas angehen sollte.

Wie oft lese ich in den letzten Wochen, dass die Ukrainer nicht nur ums eigene Leben kämpfen, sondern um die Verteidigung „unserer Werte“. Ich bezweifle zwar, dass es da so eine große Werteübereinstimmung gibt, werde aber einen Teufel tun, das jetzt und hier zu sagen. Da warte ich lieber auf den sibirischen Winter. Jetzt ist mir das Eis noch zu dünn. Jetzt würde es sofort heißen: „Der Putin-Versteher ist sicher auch gegen die Sanktionen!“ Nein, ist er nicht. Ja, wir schneiden uns damit auch in den eigenen Finger, aber von „ein bisserl in den Finger schneiden“ stirbt man nicht, wie die Menschen in der Ukraine.

Zu anderen Themen, wie „Ukraine und der Nationalismus“ und „Ukraine und der Antisemitismus“ bin ich wohl auch ganz gut beraten, wenn ich hier und heute lieber um den heißen Brei herumrede. Ein andermal.

Aber ja, es geht um den Krieg eines Angegriffenen gegen einen mutwilligen Angreifer. Und es geht um den Krieg einer Demokratie gegen eine Diktatur. Auch wenn die Demokratie nicht ganz die unsere ist. Aber die ungarische Demokratie ist ja auch nicht gerade die unsere, oder ist sie es schon? Ich bin seit ein paar Wochen in Israel.

So, wenn sich jetzt noch Lust verspüren weiterzulesen, dann lassen Sie uns kurz über Israel reden. Denn auch da geht es um den Kampf einer Demokratie (mit all ihren Unzulänglichkeiten) gegen eine Horde von Nicht-Demokratien.

Was ist so kompliziert an der Wahl am 1. November? Mathematisch ist gar nichts kompliziert. Der, der als erster 61 Sitze zusammengesammelt hat, hat gewonnen und darf eine Regierung bilden. Wenn es akkurat 61 Sitze sind, dann dürfen Sie dreimal raten, wie lange diese Koalition halten wird. Ich sage es Ihnen: genau so lang wie die letzte, die hatte nämlich auch genau 61 Sitze. 19 Monate.

Warum ist das so? Ganz einfach, weil man 4 bis 7 Parteien braucht, um auf diese magische Zahl 61 zu kommen. Die letzte Koalition war überhaupt eine von 8 Parteien. Und unter diesen Parteien sind arabische Parteien auf der einen Seite und rechtsextreme-religiöse Parteien auf der anderen Seite der Skala. Versuchen Sie einmal, da eine Koalition zusammenzuhalten. In Österreich kriegt man schon kalte Füße, wenn man von einer Dreier-Koalition spricht.

Man kann die Wahl aber auch ganz anders sehen, nämlich als Abstimmung über Netanjahu als Premierminister. Wieder einmal dreht sich alles um ihn. Das Land ist geteilt. „Es gibt keinen Besseren!“ sagen die einen „Es gibt keinen Schlechteren!“ die anderen.

Und damit sind wir bei der Kragenweite. Denn eigentlich sind Wahlen heutzutage mehr oder weniger Vergleiche der Kragenweiten von Kandidaten. Ist dieses oder jenes Amt seine oder ihre Kragenweite oder nicht? Netanjahus Kragenweite würde schon passen und hat bis vor ein paar Jahren auch gepasst. Aber jetzt ist er ein Unglück für dieses Land, weil es ihm nicht mehr um das Land geht, sondern nur mehr um ihn selbst. Es geht eben nicht mehr um seine Kragenweite, es geht um Kopf und Kragen. Seinen. Und dafür würde er alles tun. Alles.

Donald und Basti schaut’s obe.

Früher, als Wahlen in Israel – im Sinowatz‘schen Sinne – noch weniger kompliziert waren, ging es um den Friedensprozess. Bist Du für den Friedensprozess und eine Zwei-Staaten-Lösung dann wählst Du so, bist Du gegen den Friedensprozess und eine Zwei-Staatenlösung, dann wählst Du so. Der Friedensprozess war sozusagen die Demarkationslinie der israelischen Politik und damit der israelischen Gesellschaft.

Heute ist der Friedensprozess irgendwie in der untersten realpolitischen Schublade gelandet. Ich würde Ihnen dazu gerne zwei nicht ganz unwesentliche „Details“ mitgeben und vor allem würde ich sie auch denen mitgeben wollen, die gern mit schicken „Free Palestine“-Shirts zur nächsten Demo abbiegen.

Zwei israelische Ministerpräsidenten, nämlich Ehud Barak und Ehud Olmert, haben zwei palästinensischen Präsidenten, nämlich Yassir Arafat und Mahmoud Abbas, jeweils einen Friedensplan vorgelegt, in dem mehr als 90 Prozent der palästinensischen Forderungen erfüllt waren. Die Antwort von Arafat: „Nein!“. Die Antwort von Abbas: „Nein!“

Warum? Weil sie beide die Demographie kannten. In 20, 30, 40 Jahren wird es einen (!) Staat geben, in dem die Juden eine Minderheit sind. Und dann ist eh alles klar.

Also wenn sie sich Sorgen machen, dass Demokratien auf der ganzen Welt den Kürzeren ziehen, dann fangen Sie an sich Sorgen über Israel zu machen und schauen sie doch, wie die Wahl ausgeht und was dann passiert.

In der Hofburg bleibt in der Zwischenzeit alles ruhig, das kann ich Ihnen versprechen.

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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