Ich, das Sommerloch

Unser Kolumnist kann so viele Katastrophen, die gleichzeitig auf ihn hereinprasseln, nicht mehr verarbeiten.

Harry Bergmann
am 22.08.2022

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Das heurige Sommerloch mit so vielen Katastrophen, die man gar nicht gleichzeitig verarbeiten kann. Hier: Ein vertrocknetes Feld in Niederösterreich. FOTO: APA/HELMUT FOHRINGER

Ich bin in ein Sommerloch gefallen. Ich kann nicht sagen, ob es dieses eine – das berühmte, das so oft zitierte – Sommerloch ist. Das, wo alles, was im Sommer passiert, hineinfällt und vor den Augen aller verschwindet und damit zur Illusion wird, dass im Sommer nichts passiert und dass alle und alles auf Urlaub sind. Nein, das ist es nicht. Das kann es ja eigentlich auch gar nicht mehr sein. Der Krieg geht nicht auf Urlaub. Die Pandemie geht nicht auf Urlaub. Die Gletscherschmelze geht nicht auf Urlaub. Die Korruption geht nicht auf Urlaub. Die Teuerung geht nicht auf Urlaub. Ja, nicht einmal unser Herr Bundeskanzler geht auf Urlaub. Er sagt, er kann nicht auf Urlaub gehen, weil der Krieg, die Pandemie, die Gletscherschmelze und die Teuerung nicht auf Urlaub gehen. Die Korruption, sagt er, gibt es nicht, also kann sie nicht auf Urlaub gehen.

Es ist vielmehr mein ureigenes Sommerloch, und ich glaube nicht einmal, dass ich hineingefallen bin. Ich habe mich in mir selbst verkrochen. Ich selbst bin das Sommerloch. Vielleicht die Hitze? Eher nein, ich bin in Israel geboren, da werde ich doch noch die lächerlichen 36 Grad durchdrücken. Es wird schon eher etwas damit zu tun haben, was Josef Redl im maily #877 – unbedingt nachlesen, vor allem dann, wenn Sie Ihr Lieblings-Kishon-Buch im Moment nicht finden können – eine „nihilistische Gleichgültigkeit“ nennt. Dazu fällt mir auch noch ein, dass mir eine liebe Freundin einen alten Foto-Band von Christine de Grancy über die griechische Insel Patmos geschenkt hat, der den wunderbaren Titel „Das letzte Atemholen vor der Gleichgültigkeit“ – der übrigens von André Heller ist – trägt. Genau das ist es, ich bin sozusagen après letztes Atemholen.

Es ist mir einfach alles egal. Es regt mich nichts mehr auf. Es geht mir bei einem Ohr hinein und beim anderen hinaus, nein, es geht mir nicht einmal bei dem einen Ohr hinein. Ich laufe auf einer Art Emotions-Notstromaggregat, das keine großen Amplituden zulässt.

Ich kann so viele Katastrophen, die gleichzeitig auf mich hereinprasseln, nicht mehr verarbeiten, nicht mehr ordnen, schon gar nicht feststellen, was für mich relevant ist. Es passiert einfach zu viel, an zu vielen Orten, von dem ich nicht weiß, was wirklich passiert ist, warum es so passiert ist und wer welches Interesse hat, dass ich glauben soll, dass es so und nicht anders passiert ist. Also mache ich das, was ich, als Sommerloch, am besten kann, ich mache nichts.

Nehmen wir doch nur diese Kolumne. Es wird Ihnen (leider!) nicht aufgefallen sein, aber ich habe schon eine geraume Zeit nichts geschrieben. Warum? Weil ich nicht über den Anfang hinausgekommen bin, weil mir der Antrieb fehlt, weil mich nichts mehr so aufregt, dass ich mich schreibend abreagieren muss. Dabei wären schon einige interessante Anfänge dabei gewesen.

Da war, zum Beispiel, der Gedanke, warum rechtes Gedankengut rechtes Gedankengut und nicht Gedankenschlecht heißt, wenn die Gedanken zum größten Teil doch so abgrundtief schlecht sind? Und warum in diesem Gedankenschlecht neben dem sattsam bekannten Hass auf Fremde, Migranten, Muslime, Juden, auf alles was von oben kommt, auf demokratisch selbstverständliche Spielregeln, jetzt auch noch Hass auf Corona-Maßnahmen und deren Befürworter, auf die Impfung und die Geimpften, auf die Masken und die Maskenträger und auf die Quarantäne und alle, die nicht verstehen, warum es sie jetzt nicht mehr geben soll, dazukommt. Was hat Corona mit Nationalismus zu tun? Warum will sich ein Nazi nicht impfen lassen? Ich verstehe es wirklich nicht, aber dass ich mich jetzt aufraffe, darüber zu schreiben und mir dann vielleicht auch noch anhören kann, dass ich hinter jeder Ecke Nazis sehe, nein danke. Zu mühsam.

Dann kam das Attentat auf Salman Rushdie und der mehr oder weniger zeitgleiche Jahrestag der Rückkehr der Taliban nach Afghanistan. Eine Steilvorlage für eine Kolumne über religiösen Fanatismus und was er auf dieser Welt schon angerichtet hat und wohl auch noch weiter anrichten wird. Wäre ich nicht zum Sommerloch mutiert, hätte ich mich mit Begeisterung auf dieses Thema geworfen. So aber, wieder nix.

Trump schleppt geheimste Atomwaffen-Dokumente vom Weißen Haus auf seinen Golfplatz, statt sie dem Staatsarchiv zu übergeben. Was will er damit? Wen hat er damit in der Hand?

Gibt es eine bessere Geschichte? Nein, gibt es nicht. Aber andererseits: „Na und?“

Von der Cofag-Affäre will ich gar nicht reden. Warum soll ich mich noch für Kurz und Blümel – und wie geschickt oder ungeschickt sie uns ausgesackelt haben – interessieren, wenn mich nicht einmal die große weite Welt und ihre Missstände zum Schreiben gebracht hat.

Was aber, wenn ich kein Einzelfall bin? Was, wenn ein großer Teil der Gesellschaft in eine Art Biedermeier-Mentalität verfällt? Wenn ich das Große in der Welt nicht mehr verstehe, dann ziehe ich mich in das Kleine, in das Private, in das Greifbare und Begreifbare, in die eigenen vier Wände zurück. Wenn ich den Ukraine-Krieg und die Sanktionen – und wer davon wirklich profitiert – nicht verstehe, dann konzentriere ich mich darauf, ob ich es im nächsten Winter fein warm zuhause habe und ob ich es mir überhaupt noch leisten kann. Menschlich, allzu menschlich.

Kann ja kein Zufall sein, dass der Beginn des Biedermeier der Wiener Kongress und seine neue Ordnung für Europa war und dass die Bürger damals der Obrigkeit und der Politik zutiefst misstraut haben.

Gute Nachricht: die Biedermeier-Epoche hat nur dreißig Jahre gedauert. Noch bessere Nachricht: mein Sommer-Blues müsste eigentlich schon im Herbst vorbei sein.

In diesem Sinne wünscht Ihnen einen schönen Restsommer

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja …). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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