Tod in Venedig

Der Krieg ist allgegenwärtig auf der Biennale in Venedig. Entweder weil er direkt angesprochen wird, oder weil man vieles durch die Kriegsbrille sieht und relativiert.

Harry Bergmann
am 25.05.2022

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Auf der Biennale ausgestellt: "Ukraine: War and Peace" von Takashi Murakami | Foto: Harry Bergmann

Das erste, was einem auffällt, wenn man den Saal betritt ist seine enorme Größe und die Leere. Er ist nicht völlig leer, aber die wenigen Dinge, die im Saal verteilt sind, verlieren sich. Man selbst verliert sich, aber das hat wohl weniger mit der räumlichen Dimension zu tun, als damit, dass man weiß, womit sich die Dinge beschäftigen, die hier ausgestellt sind.

Ja, es ist ein Ausstellungsraum. Ein Ausstellungsraum der diesjährigen Biennale in Venedig. Die Ausstellung heißt „Ukraine: Defending Freedom“.

Und ja, Armin Thurnher hat schon vor Wochen über die Eröffnung dieser Ausstellung geschrieben. Ich wollte seine Kolumne nicht vor meinem Biennale Besuch lesen und jetzt habe ich den Scherben auf. Eigentlich haben Sie den Scherben auf, denn das, was Sie hier lesen, hätten Sie viel besser in der Seuchenkolumne Nr.709 „Kunstnotizen als Kriegsnotizen“ lesen können. Also nichts für ungut.

Defending Freedom. Es ist sehr schnell klar, dass damit nicht nur der Krieg gemeint ist, der am 24. Februar 2022 begonnen hat, sondern der Krieg, der schon 2014 begonnen hat und von der Welt nicht als Krieg verstanden wurde oder nicht verstanden werden wollte. Wer will schon Krieg mit Russland verstehen?

Es ist aber genauso schnell klar, dass damit nicht nur die Freiheit der Ukraine gemeint ist, sondern unser aller Freiheit. Die Freiheit so zu leben, wie wir wollen. Die Freiheit überhaupt zu leben. Ich habe seit Langem meine Probleme mit diesem ukrainischen Narrativ, sofern man dieser Tage mit einem ukrainischen Narrativ überhaupt ein Problem haben darf.

Das Hauptproblem ist nicht einmal, dass es – zumindest für mich – so nicht stimmt, sondern, dass man uns, den Bequem-Demokraten, die Story offensichtlich so erzählen m-u-s-s, weil wir sonst nach der ersten Kriegs-Schockstarre, liebend gerne zu unserer Tagesordnung zurückkehren wollen. Zu einer Tagesordnung, die vorgibt, den jähzornigen Putin nicht allzu sehr zu reizen, damit wir uns, ohne sein Gas, nicht „warm anziehen müssen“.

Man kommt also in diesen Saal, in diesen großen Saal und sieht auf der Stirnseite eine Fotogalerie. Es ist eine endlose – nein, besser: nicht endenwollende – Reihe von Frauenporträts. Mütter. Unter dem jeweiligen Porträt der Name der abgebildeten Mutter und der Name und Kosename ihres Sohnes. Noch etwas steht da, eine Zahl. Am häufigsten eine Zahl zwischen 20 und 35. Das Alter des Sohnes, in dem er gefallen ist. Gefallen in den Jahren 2014 und 2015. Gefallen, defending freedom.

Man geht die Reihe der Fotos ab. Man studiert die Gesichter. Man stellt sich eine Geschichte dazu vor, wobei das Ende der Geschichte, der Verlust des Sohnes, ja schon feststeht. Man wagt es nicht, diese Parade vorzeitig abzubrechen. Man will zumindest allen Müttern die Ehre erweisen, den Namen ihres Sohnes gelesen zu haben. Tod in Venedig.

Es gibt, objektiv gesehen, sicher viel spektakulärere Exponate von spektakuläreren Künstlern in diesem Raum – Olafur Eliasson, Damien Hirst, Takashi Murakami – aber diese stumme Anklage übertönt in meiner Erinnerung alles. Das Schlimmste sind die Kosenamen. Stimmt, jeder Tote hatte einmal einen Kosenamen.

Vor dem Verlassen der Ausstellung sehe ich noch etwas, das ich beim Betreten übersehen hatte. Einige Originalseiten des – inzwischen berühmt gewordenen – Kriegstagebuches der Yevgenia Belorusets. Sie schreibt: „Als der Krieg begann, hatte ich nicht die Absicht in Kiew zu bleiben, aber sehr bald wurde ich die Geisel meines Tagebuchs.“ Sie dachte, der Krieg würde nur ein paar Tage dauern. Wir alle dachten das. Sogar Putin dachte das. Heute ist Tag 90. Auch sie spricht von „our common pain, the common pain of all humanity.“ Tod in Venedig.

Der Krieg ist allgegenwärtig auf der Biennale. Entweder weil er direkt angesprochen wird, oder weil man vieles durch die Kriegsbrille sieht und relativiert. Da gibt es dieses wunderbare Bild von Marlene Dumas im Palazzo Grassi. Es ist ein bunter Blumenstrauß auf dunkelblauem, fast schwarzem Hintergrund. Es sind die Blumen auf dem Grab ihrer Mutter. Vielleicht ist es gar kein Stillleben, vielleicht ist es ein Porträt ihrer Mutter, denke ich. Das Porträt einer positiven, optimistischen, alles Schöne liebenden Frau, denke ich. Im gleichen Moment denke ich an die Toten in Butscha. An die Toten ohne Gräber. An die Millionen Toten ohne Gräber in diesem und allen anderen Kriegen.

Der Krieg ist allgegenwärtig auf einer Biennale, die das Motto „The Milk of Dreams“ hat. Und leider ist auch die Gewissheit gegenwärtig , dass der Traum, dass „Schönheit die Welt retten wird“ zumindest bis zur nächsten Biennale warten muss.

Jedenfalls wieder in Wien,

Ihr Harry Bergmann

4 Tage auf der Biennale. 4 Tage kein Thema für die übliche Rundumschlag-Kolumne.

4 Tage kein österreichischer Sport. Nichts versäumt! Thiem hat wieder verloren. Zum x-ten Mal. Er hat nichts anderes erwartet, sagt er. Na dann.

4 Tage keine österreichische Innenpolitik. Herrlich! Van der Bellen kandidiert. Er wird nicht verlieren, wie Thiem. Er erwartet auch sicher nichts anderes. Na dann.

Neuer Landwirtschaftsminister gibt Interview. 1 Interview, 1 Skandal. Leider versäumt! Wäre eine wunderbare Rundumschlag-Kolumne geworden. Ich erwarte sehnsüchtig sein zweites Interview. Na dann.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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