Was ist schon 100%ig?

Karl Nehammer hat bei der Wahl zum Parteivorsitzenden 100% der Delegiertenstimmen erhalten – da könnte sich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas noch etwas abschauen.

Harry Bergmann
am 18.05.2022

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Mehr geht nicht, 100 Pro!

Die schnelle Antwort auf diese Frage könnte lauten: „Nichts!“ Dann wäre aber erstens die Kolumne an dieser Stelle schon zu Ende, und zweitens wäre die Antwort falsch.

Das prominenteste Gegenbeispiel ist die Endlichkeit unserer Tage. Aber auch da bleibt die Frage nach dem Wann und dem Wie, und eine Auferstehung hat es ja schließlich auch schon einmal gegeben. Also nix ist fix.

Abgesehen davon wäre ein Leben mit 100%iger Gewissheit ein leeres Leben. Es gäbe nichts mehr zu erhoffen, nichts mehr zu ersehnen. Es wäre echt fad.

Jedes Horoskop lebt davon, dass es stimmen könnte, aber höchstwahrscheinlich eh nicht stimmt. Jede Wettervorhersage lebt davon, dass man seine Planung getrost auf das genaue Gegenteil ausrichten kann.

Jede Nachricht, ob gut oder schlecht, könnte fake sein.

Jeder Casinobesuch mit einem 100%igen System wäre nur eine andere Form von Bankraub.

Selbst dem berühmten Inländer Stroh-Rum fehlen 20 Prozent auf 100 und Ausländer-Rum sollte man – wenn es nach dem Willen einiger einschlägig bekannter Politiker geht – nach Schließen aller möglichen Routen gar nicht erst in den Mund nehmen. Weder verbal noch direkt aus der Flasche.

Das ist alles schön und gut, aber es gilt seit dem 14. Mai dieses Jahres nicht mehr. Da hat nämlich Karl Nehammer bei der Wahl zum Parteivorsitzenden 100% der Delegiertenstimmen bekommen. In Worten, auch wenn sie einem fehlen: Hundert Prozent!!

Selbst bei der Wahl von Xi Jinping zum Staatschef von China gab es eine Gegenstimme und drei Enthaltungen. Bei der Wahl von Kim Jong-un zum „Obersten Führer“ von Nord-Korea dürfte es allerdings so oder so ähnlich wie beim ÖVP-Parteitag zugegangen sein. Genaueres weiß man nicht, denn wenn es in Pjöngjang einen Stimmenthalter oder gar einen Dagegenstimmer gegeben haben sollte, dann lebt weder er, noch seine hundertköpfige Sippschaft. Das ist 100%ig sicher.

Will sagen: Die ÖVP im Allgemeinen und Karl Nehammer im Besonderen sind in schlechtester Gesellschaft.

Und schon tauchen ein paar Fragen auf, die einem von Regierungsfreundlichen – bei diesem Wahlergebnis könnte man auch von Regimegetreuen sprechen – übelgenommen werden und einen zur „Roten Socke“ machen. Da kann man noch so oft erklären, dass einem Pink als Wahlfarbe immer besser gefällt.

Frage 1: Wer ist überhaupt auf diese nordkoreanisch-ungaro-Zentralkomitee-getreue Idee gekommen?

Zusatzfrage 1: Du, Gustl?

Anmerkung zu Frage 1: Sollten Sie einmal persönliche in die missliche Lage kommen, Mitglied einer Wahlkommission zu sein und Sie sind mit 100% für einen der Kandidaten oder eine der Kandidatinnen konfrontiert, dann zerschnippseln Sie bitte zwei bis drei Wahlzettel und essen Sie sie auf.

Frage 2: Ist der Kopf schon so leer oder sind die Hosen schon so voll?

Anmerkung zu Frage 2: Meistens treten diese beiden Phänomene gleichzeitig auf.

Frage 3: Hat Karl Nehammer für sich selbst gestimmt? Wenn ja, siehe Frage 2.

Anmerkung zu Frage 3: Ein lieber Freund von mir, der sich in der Politik super auskennt – vielleicht deshalb, weil er selbst einmal Minister war – hat mir eine Geschichte von Konrad Adenauer erzählt, der einmal für sich selbst gestimmt hat und auf die unausbleibliche Frage „Warum?“ geantwortet haben soll: „Wenn nicht einmal ich an mich glaube, wer dann?“ Da ich nicht davon ausgehe, dass Karl Nehammer so schlagfertig ist, erachten Sie bitte diese Anmerkung zu Frage 3 als gegenstandslos.

Frage 4: Sind die 100% der christliche oder der soziale Anteil der neuen ÖVP?

Anmerkung zu Frage 4 (eigentlich Frage 5): Werden jetzt 100% der Werbemittel, Fahnen, Wimpeln, Kugelschreiber, Feuerzeuge, Leuchtkästen, Kleinplakate, Aufsteller, Luftballons etc., die die Aufschrift „Die Neue Volkspartei“ tragen, eingestampft und – im Sinne des Koalitionspartners – zu 100% recycelt?

Der arme, arme Karl. 100 Prozent sind wirklich keine Frohbotschaft. Sie sind das Gegenteil eines Vertrauensbeweises, denn sie sagen: „Karl, Du hast hundert Prozent unserer Unterstützung, denn Du brauchst sie dringend.“

Ich komme auf die Regierungsfreundlichen alias Regimegetreuen zurück, die sich jetzt empören: „Bei den Sozen ist das alles noch viel ärger!“ Ja, nicht nur die türkisen Socken, sondern auch das „Rote Gesocks“ hatte einen Parteitag. Den pannonischen. Sozialistische Pannonier Österreichs, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen SPÖ.

Da gibt es den Hans Peter Doskozil und der ist schlau. Der hat nämlich nicht 100% bekommen, sondern 97,8%. Ein Mann der Tat. Er hat einige Wahlzettel höchst persönlich aufgegessen. Ein großer Demokrat vor dem Herrn. Einer, der den „Menschen dienen will.“ Einer, der sagt: „Wir müssen so reden, dass es auch wehtut.“ Ich verfolge die Reden des Hans Peter Doskozil seit einigen Jahren und ich kann bestätigen: es tut mir weh, sehr weh sogar.

Im Zweifel hätte ich aber dennoch lieber die 97,8% des Hans Peter Doskozil als die 100% des Karl Nehammer. Kaum steht das so da, schon muss ich sagen, dass auch das nicht 100%ig stimmt. Denn um diese 97,8% des Hans Peter Doskozil zu haben, müsste ich Hans Peter Doskozil sein. Und nichts liegt mir ferner.

Hätte ich dann lieber die 75,34% von Pamela Rendi-Wagner? Ehrlich gesagt, ja. Obwohl ich sie oft nicht verstehe. So sagte sie am Pannonischen Parteitag zum Beispiel: „Ich bin stolz auf das Burgenland.“ „Wieso?“, frage ich mich „hat denn das Burgenland Doskozil die 97,8% gegeben?“ Sie sagte aber auch: „Ich bin stolz auf den Landeshauptmann!“ Und ich frage mich wieder: „Wieso? Ist denn der Landeshauptmann auch so stolz auf sie?“

Sei es, wie es sei, Pam hat mir den Glauben an die 100% wiedergegeben, als sie sich im Burgenland über die große Zustimmung für Hans Peter „wirklich, wirklich“ freute.

„Wirklich, wirklich“ ist 100%, oder?

Fragt sich mit Bangen,

Ihr Harry Bergmann

PS: Um auch über die wirklich, wirklich wichtigen Dinge zu schreiben: Finnland und Schweden haben heute ihre Nato-Beitrittsgesuche unterzeichnet. Das ist 100% verständlich. Ob es die Welt zu einem besseren Ort macht, bin ich mir nicht 100% sicher.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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