Kann Neutralität mutig sein?

Die Neutralität könnte auch einem kleinen Land wie Österreich, seiner „kleinen“ Stimme, in den größten Ohren der Welt Gehör verschaffen. Betonung auf "könnte".

Harry Bergmann
am 04.03.2022

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Licht für Frieden am Wiener Volkstheater |  FOTO: APA/HANS PUNZ

Sommer 2013. Die Lage am Golan wird zunehmend ungemütlicher. Das liegt nicht so sehr am Konflikt zwischen Israel und Syrien, sondern vielmehr daran, dass sich die Ausläufer des syrischen Bürgerkriegs auch hierher ins Gebirge verirren. Vielleicht nicht der allererste, aber doch einer der ersten Gedanken, der bei den rot-weiß-roten, blauen Helmen, die am Golan stationiert sind, aufkommt, ist quasi die Umkehr des olympischen Gedankens: „Man muss nicht überall dabei sein.“ Kaum zu Ende gedacht, sind die wichtigsten Dinge auch schon zusammengepackt und ab geht‘s in die Heimat. Später hat man dann erfahren, dass der Abmarschbefehl von höchster Stelle aus Wien gekommen ist und wie heißt es so schön beim braven Soldaten Schwejk? „Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, Befel is Befel.“

Schwamm drüber. Es ist nicht einmal eine Fußnote einer Fußnote in der Geschichte des Nahost-Konflikts, ob 400 Bundesheersoldaten den Golan überwachen oder nicht. Der Abzug spielte keine Rolle, aber die Haltung, die dem Abzug zugrunde lag, spielte eine. Und diese Haltung ist seit dem 26. Oktober 1955 immer die gleiche: „Wir mischen uns nicht ein. Wir sind neutral.“ Wenn man noch ein bisschen die österreichische Seele dazumischt, liest sich das so: „Uns geht das nichts an. Wir sind neutral“.

Schon sind wir mitten drinnen in der immerwährenden Diskussion über die immerwährende Neutralität, die im Grunde genommen eine immerwährende Versuchung darstellt, sich ab- oder wegzuducken.

Ich frage mich: Kann Neutralität mutig sein?

Das hängt höchstwahrscheinlich davon ab, wie es zu dieser Neutralität gekommen ist. Österreichs Neutralität war kein freier Entschluss, sondern ein Zugeständnis. Und Zugeständnisse sind selten mutig.

Vielleicht ist es naiv oder einfach meiner biographisch bedingten Perspektive geschuldet, aber das Nachkriegs-Österreich hätte ja auch sagen können: „Wir haben einen riesigen Fehler gemacht, wir haben den Anschluss bejubelt, wir haben uns mitschuldig gemacht, wir wollen so einen Fehler nie wieder machen und schreiben in unserer Verfassung fest, dass wir von nun an neutral bleiben.“ Das wäre dann einigermaßen mutig gewesen.

So aber haben die Russen nach unzähligen Vierteln Wein gesagt: „Wir ziehen nur ab, wenn Ihr garantiert, Euch nie wieder einzumischen.“ Also haben es Raab, Figl & Co. garantiert. Diese Reblaus-Neutralität war zwar schlau, aber mutig war sie eher nicht.

Wenn ich das so sage, habe ich mich wahrscheinlich bereits des Hochverrats schuldig gemacht, aber erlauben Sie mir dennoch einen kläglichen Versuch der Verteidigung. Ich finde es gut, dass Österreich neutral ist. Die Neutralität ist etwas, aus dem man etwas Besonderes machen kann. So kann auch ein kleines Land, einen wertvollen Beitrag zur Balance einer völlig aus der Balance geratenen Welt leisten. So kann auch ein kleines Land, seiner „kleinen“ Stimme in den größten Ohren der Welt Gehör verschaffen.

Jetzt sollte ich aber lieber in den Konjunktiv wechseln. Die Neutralität könnte etwas Besonderes sein. Österreich könnte einen wertvollen Beitrag zur Balance der Welt leisten, aber ich sehe ihn nicht. Ich sehe den rot-weiß-roten Teller, aber über den Tellerrand hinaus sehe ich nur Verschwommenes, Nebuloses.

Aber jetzt ist ohnehin alles anders.

Jetzt ist Krieg, nur wenige hundert Kilometer von uns entfernt.

Jetzt hat sich ein russischer Präsident entschlossen, ein Kriegsverbrecher und Massenmörder zu werden, auch der eigenen Soldaten.

Jetzt kämpfen alle Ukrainer um ihr Land, um ihre Lieben, um ihr Leben.

Jetzt können wir sehen was wahrer Mut bedeutet.

Jetzt müssen wir aber auch sehen, was Mutwillen bedeutet.

Jetzt ist nicht die Zeit für Äquidistanz.

Jetzt ist nicht die Zeit für „Mir san mir und mir san neutral.“

Jetzt ist nicht die Zeit, Angst davor zu haben, sich kalte Füße zu holen (wortwörtlich).

Jetzt ist nicht die Zeit für bloße Worte.

Jetzt ist nicht die Zeit für hohle Solidaritäts-Worthülsen.

Jetzt ist nicht die Zeit bloß Fahnen zu hissen und Wände zu bemalen.

Jetzt ist die Zeit für Taten.

Jetzt ist die Zeit mutig und neutral zu sein.

Aber irgendwann, wenn dieser Irrsinn, dieses sinnlose Töten (als ob töten jemals sinnvoll gewesen ist), dieser Krieg vorbei ist, sollten wir uns vielleicht wieder an den braven Soldaten Schwejk erinnern, der, bevor er in den Krieg zog, sich mit seinen Freunden und Saufkumpanen in seinem Stammbeisl verabredete: „Also dann, nach dem Krieg um halb sechs im Kelch.“

Wir sollten uns vielleicht jetzt schon für nach dem Krieg um halb sechs verabreden, um darüber zu sprechen, wie wir mehr aus dieser unserer Neutralität machen können Und endlich damit aufhören uns hinter der Verfassung zu verstecken: „Es geht uns nichts an, weil es uns nichts anzugehen hat.“

Meint,

Ihr Harry Bergmann

Apropos neutral: es fällt mir schwer gegenüber dem, was sich in Österreich gerade abspielt, neutral zu bleiben. Wir haben einen Rekord von 40.000 Neuinfektionen und sperren am 5. März trotzdem alles auf. Im Gegensatz dazu lässt heute der Gesundheitsminister seinen Rollladen hinunter. Wir haben einen Vorsitzenden im Untersuchungsausschuss, der tatsächlich das tut, was das halbe Land von ihm erwartet hat: er provoziert und torpediert. Wir haben eine ehemalige Ministerin, die heute verhaftet wurde. Und dabei ist nicht einmal mehr Aschermittwoch.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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