Noch zappenduster oder schon stockfinster?

Wir lernen nichts aus der Geschichte, nicht einmal aus jener der letzten 100 Jahre

Harry Bergmann
am 26.02.2022

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Zwei Schilder bei der Demonstration gegen den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am Samstag vor der russischen Botschaft in Wien. - FOTO: APA/HANS PUNZ

Okay, ich habe mich geirrt. Aber was soll’s. Erstens haben sich viel gescheitere Köpfe, als ich es bin geirrt, und zweitens geht es nicht um mich. Ich sag das nur deshalb, weil ich so viele Kommentare gelesen, gesehen und gehört habe, bei denen sich die Kommentatoren selbst wichtiger genommen haben, als die Situation, die sie kommentierten. Krieg der Schwerter ist immer auch Krieg der Federn, und da trennt sich eben der Schreiberlingspreu vom Journalistenweizen.

Er ist doch tatsächlich einmarschiert. Er ist verrückt. Er ist verrückt oder es hat sich irgendetwas in ihm noch weiter verrückt, als es ohnehin schon war. Ich dachte er sei ein Spieler, der wie alle guten Spieler nach einer wissenschaftlich fundierten Spieltheorie spielt. Sie kennen doch sicher „Schere, Stein, Papier“, oder? Bevor Sie sich jetzt aufregen, dass ich in so ernsten Zeiten über kindische Spiele rede, schenken Sie mir bitte eine paar Sekunden Ihrer Aufmerksamkeit. Die empirische Forschung sagt, dass ein Spieler, der – sagen wir einmal – mit Papier gewonnen hat, mit großer Wahrscheinlichkeit wieder Papier spielt. Der Gegner, so er kein Jausengegner ist, weiß das aber und spielt Schere. Das aber wiederum weiß unser Spieler, spielt Stein und gewinnt wieder.

Der Krieg in der Ukraine ist aber nicht „Schere, Stein, Papier“. Er ist gar kein Spiel – außer vielleicht Russisches Roulette – und Putin ist kein Spieler, der sich an irgendeine Spieltheorie hält. Er hat mit Papier gewonnen und spielt einfach nochmals Papier. Er ist in die Krim einmarschiert und hat gewonnen, also ist er jetzt wieder einmarschiert.

Zachem? Das ist russisch, wird in etwa „satschïem?“ ausgesprochen und heißt „Warum?“

Zur Frage des Warum fällt mir der Song von P!nk ein, der zwar einen ganz anderen Präsidenten meinte, aber perfekt auch auf den im Kreml passt.

Dear Mr. President

Come take a walk with me

Let’s pretend we’re just two people and

You’re not better than me

I’d like to ask you some questions if we can speak honestly

How do you sleep while the rest of us cry?

How do you dream when a mother has no chance to say goodbye?

How do you walk with your head held high?

Can you even look me in the eye

And tell me why?

Ja, das wüssten wir alle gern. Why?

Das heißt, eigentlich wissen wir es eh. Es ist die Sehnsucht nach den vier Buchstaben CCCP. Die Sehnsucht nach der großen, bedeutenden, gefürchteten Sowjetunion. Wenn wir es aber wissen, warum sind wir dann so überrascht? Und wenn wir es nicht gewusst haben, warum haben wir ihm nicht zugehört? Er hat es oft und oft gesagt und wir haben es genauso oft überhört. Waren wir, der sogenannte Westen, der geglaubt hat, mit der Implosion der Sowjetunion, den kalten Krieg gewonnen zu haben, zu sehr mit uns selbst beschäftigt? Mit unseren kleinen und kleinlichen Nationalismen? Mit unseren kleinen und größeren Populismen? Mit Corona? Hat mit Angela Merkel die Letzte die politische Bühne verlassen, die noch zuhören konnte? Haben wir es nur mehr mit Selbstdarstellern zu tun, die aber am Ende des Tages nichts darstellen? Sicher von allem etwas.

Wir lernen nichts aus der Geschichte. Nicht einmal aus jener der letzten 100 Jahre. Im September 1938 reiste der britische Premierminister Neville Chamberlain nach München, wo er, um einen Krieg vorzubeugen, das Münchner Abkommen unterzeichnete. Adolf Hitler, Neville Chamberlain, Édouard Daladier und Benito Mussolini vereinbarten die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei an Deutschland. Alles nachzusehen in dem wirklich guten, neuen Netflix-Film „München – Im Angesicht des Krieges“.

Der Chamberlain von 2022 ist Emmanuel Macron, der mit seiner Appeasement-Politik genauso begossen-pudelig dasteht, wie seinerzeit Chamberlain. Ein Aggressor ist eben ein Aggressor ist eben ein Aggressor. Und noch einmal: er ist verrückt oder krank, oder durch Krankheit verrückt. Er droht mit einem atomaren Schlag, er droht Finnland und Schweden, als ob diese schon Vasallenstaaten von Russland wären. Was gibt es da zu verhandeln?

Während die russische Armee, die keine Sowjetarmee und schon gar keine Rote Armee mehr ist, ihr Unwesen treibt, vertreiben sich Putin und sein ebenfalls kontoeingefrorener Außenminister Lawrow die Zeit mit dem millimetergenauen Abmessen aller Aktionen, um festzustellen wie symmetrisch oder asymmetrisch ihre Gegenaktionen zu sein haben.

In der Zwischenzeit ist es zappenduster geworden in der Ukraine. Präsident Selenski, der als Komödiant begonnen, aber längst ins Charakterfach gewechselt hat, telefoniert. Mit Gott und der Welt. In seiner bitteren Verzweiflung sogar mit Bundeskanzler Nehammer. Hoffentlich hat ihm Gott mehr zu sagen als all die westlichen Regierungschefs. „Wir tun, was wir können!“ Sie erzählen ihm von Sanktionen und immer wieder neuen Sanktionen und immer wieder härteren Sanktionen. Vielleicht erklärt er Ihnen dann, dass man eine Diktatur oder gar einen Diktator mit Sanktionen nicht in die Knie zwingen kann. Die Sanktionen werden an die russische Bevölkerung weitergereicht und die kann sich nicht, wie in einer Demokratie, wehren, indem sie die Führung, der sie diese Sanktionen zu verdanken hat, bei der nächsten Wahl zum Teufel jagt. Im Gegenteil, jeder, der aufmuckt wird selbst zum Teufel gejagt. Vielleicht erklärt er Ihnen auch, dass Sanktionen ein Bumerang sein können. Allen voran für jene, die vom russischen Gas abhängig sind und nicht rechtzeitig ihre Läger aufgefüllt haben, weil sie, ja, weil sie es schlichtweg verpennt haben. Soll schon mal vorkommen in der EU, dass man etwas verpennt.

Also hoffen wir, dass es schnell Frühling und warm wird, denn die Gasreserven könnten schneller „alle“ sein, als uns lieb ist. Und dann ist es nicht mehr zappenduster, sondern stockfinster.

Bereiten wir uns auf viele ukrainische Flüchtlinge vor und versuchen wir, ihnen ein sicheres Dach über dem Kopf zu bieten. Das ist nicht viel, aber das Mindeste, was wir tun müssen, nicht wahr, Herr Bundeskanzler?

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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