Es gibt kein Warum

Ein Briefwechsel zwischen Harry Bergmann und seinem Freund Awi Blumenfeld über den Versuch 120 zu werden, Österreich und den Antisemitismus

Harry Bergmann
am 10.02.2022

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Ein Gespräch unter alten Freunden | Foto: The Blowup/ Unsplash

Es gibt kein Warum

Lieber Awi,

vorab möchte ich mich für die Länge des Schreibens entschuldigen. Aber Du kennst das ja mit dem Zeitmangel, der kurze Briefe immer länger und länger werden lässt.

Das ist meine 120. Kolumne und die ist mir – höchstwahrscheinlich ohnehin nur mir – sehr wichtig. Die ist mir sogar so wichtig, dass ich sie schon in meiner 119. Kolumne groß angekündigt habe. Fehler! Das macht mir jetzt gehörig Stress. Denn wenn meine Texte von irgendetwas leben, dann davon, dass man ihnen anmerkt, dass ich keinen Stress beim Schreiben habe. Aber da muss ich jetzt wohl durch.

Dir brauche ich die Symbolkraft der Zahl 120 nicht zu erklären, aber vielleicht einigen meiner Leserinnen und Leser. Es geht um jüdische Geburtstage. Warum sage ich eigentlich „jüdische Geburtstage“? Was macht einen Geburtstag jüdisch? Warum sage ich nicht „Wenn eine Jüdin oder ein Jude Geburtstag hat, dann wünscht man ihr oder ihm „Bis 120“. Sie oder er möge bis 120 leben, denn Moses hat auch bis 120 gelebt.“ Ich ertappe mich öfters dabei dem Wort „Jude“ ausweichen zu wollen. Das Wort ist einfach schon durch zu viel Dreck gezerrt, auf zu vielen Geschäftslokalen hingeschmiert und auf zu vielen gelben Sternen eingestickt worden. Ich glaube, es ist eine Art Reflex, den uns die Nazis zurückgelassen haben. Vielleicht ist es aber auch ein Reflex, den die Nazis nur mir zurückgelassen haben und Dir geht es ganz anders damit.

Ich bin ganz sicher, dass es Dir mit vielen Dingen des jüdischen Lebens anders geht als mir.

Dein Jüdisch-Sein ist viel – wie soll ich sagen? – tiefer als meines. Viel wissender.

Warum schreibe ich Dir das? Und warum müssen meine Leser das mitlesen? Letzteres fürchte ich nicht wirklich zufriedenstellend beantworten zu können, ersteres erklärt sich, wenn Du weiterliest. Ich möchte Dich nämlich bitten, mit Deinem Wissen, mir beim heutigen Text zu helfen.

Seitdem die Pandemie wütet, erklären uns täglich Expertinnen und Experten das Was, Wie, Wo, Wann, Wieviel und Warum. Für mein heutiges Thema – für das es absolut kein Warum gibt – bist Du mein Experte. Denn wenn wir schon bei 120 und Moses sind, soll es um etwas gehen, das aus dem jüdischen Leben, ganz egal wie man es führt, nicht auszublenden ist, so sehr man sich auch danach sehnt. Um den g’ttverdammten Antisemitismus.

Wenn ich mich nicht gerade über die österreichische Innenpolitik echauffiere, oder meine Übervorsichtigkeit in Sachen Corona zelebriere oder mich als Israel-Berichterstatter wichtig mache, oder mich über alle und alles lustig mache, komme ich magnetisch immer wieder auf dieses Thema zurück. Meist aus aktuellem Anlass. Im Moment kann ich mich der aktuellen Anlässe allerdings kaum erwehren.

Genau an dieser Stelle kommst Du ins Spiel. Sag mir bitte, worüber ich schreiben soll. Oder worüber Du an meiner Stelle schreiben würdest.

Über den gerade erschienenen Antisemitismus-Report, der zeigt, dass die sichtbare Spitze des Eisbergs größer geworden ist? Wobei das gar nicht das Problem ist, denn gegen das, was man sieht, kann man ankämpfen. Der riesige, unsichtbare Eisberg, der versteckte Antisemitismus macht wesentlich mehr Angst.

Oder über den ehemaligen Bürgermeister jenes Ortes, der ein Dollfuß-Museum – was heißt da Museum?Gedenkstätte! – beheimatet (gutes Zeitwort im Zusammenhang mit Dollfuß), der zum neuen Innenminister angelobt wurde oder lieber über einen Mann, der beim Ulrichsbergtreffen teilgenommen hat und jetzt den Kärntner Verfassungsschutz leiten soll, statt von diesem rund um die Uhr observiert zu werden? Oder über jene Politiker, die meinen, dass dieser Mann – er heißt übrigens Tauschitz – mit seiner Teilnahme an dem Treffen, die Verbrechen der Waffen-SS „verharmlost“ hat. Als ob irgendjemand zum Verharmlosen auf den Ulrichsberg pilgert.

Oder soll ich polyglotter werden und mich über den Report von Amnesty International wagen, der Israel Apartheid vorwirft? Kaum ist er veröffentlicht, fliegen auch schon auf der ganzen Welt die Fetzen. Könnte Amnesty International wienerisch reden, würde das eventuell so klingen: „So sans die Juden, wenn ma die Politik von Israel angreift, is ma glei a Antisemit.“ Ich könnte – auch auf wienerisch – darauf eingehen, lass es aber lieber einfach so stehen. Was meinst Du?

Oder soll ich den jüngsten Spruch von Whoopi Goldberg aufgreifen, die meinte, dass der Holocaust nichts mit Rassismus zu tun hat. Die armen Nazis. Da kommt die gute Whoopi um die Ecke und haut denen die ganzen Nürnberger Rassengesetze über den Haufen.

Offensichtlich nimmt man nur den Rassismus wahr, der einen selbst betrifft.

Oder sollte ich das leidige Thema umdrehen und mich fragen, was sich ein glühender Antisemit denkt, wenn er den Film „Die Wannseekonferenz“ sieht? Er kann ja schwer behaupten, dass es sich um ein jüdisches Machwerk handelt und irgendwelche Ostküstler die Protokolle von Eichmann manipuliert haben. Was fühlt er als Zeuge dieser Konferenz, die anmutet wie die Jahressitzung der wichtigsten Kammerjäger des Landes, in der völlig schnörkellos die Logistik und Kosteneffizienz der Vernichtung von elf Millionen Ungeziefer besprochen wird?

Was immer ich auch schreibe, lieber Awi, ich werde unter keinen Umständen jammern und lamentieren. Denn es geht mir gut und es geht meiner Familie gut. Wenn es nicht so wäre, dann hätte der Antisemitismus gewonnen. Hat er aber nicht.

Liebe Grüße,

Dein Harry


Es gibt immer ein Warum

Lieber Harry,

kurz ist bekanntlicherweise relativ, aber in Wirklichkeit ließe sich zu diesem Triggerwort mehr schreiben, als elektronisches Papier oder gar gedrucktes aushalten kann und überhaupt will.

Ich meine natürlich das Wort „Jude“ und nicht das Wort „Antisemitismus“, über das Du Dir einbildest unbedingt schreiben zu müssen. Das Wort „Jude“, dessen etymologische Wurzel aus dem Hebräischen übrigens mit dem Begriff „Dank“ und „danken“ gleichzusetzen ist. Jude, von Jehuda dem vierten Sohn Leas und Jakobs, über dessen Mutter im Buch Genesis steht: „Und sie fühlte sich wiederum Mutter und gebar einen Sohn, und sie sprach: Diesmal muss ich dem Ewigen danken. Darum nannte sie ihn Juda (Jehudah)“.

Auch wenn der Duden erst kürzlich empfohlen hat, statt „Jude“ lieber „jüdischer Mensch“, „jüdischer Mitbürger“ oder „Mensch jüdischen Glaubens“ zu sagen. Denn das Wort Jude werde manchmal als diskriminierend empfunden. „Wie hätten Sie uns den gerne?“ betitelt unser gemeinsamer Freund Richard C. Schneider sein neuestes Buch, und das möchte man am liebsten sarkastisch dem Duden zurufen.

Was wollen wir aber wem danken? Etwa dem Juden den Antisemitismus? Mir fällt gerade nicht mehr ein, wer gesagt hat, dass „aus dem Antisemitismus schon etwas werden könnte, wollten sich nur die Juden seiner annehmen“. Bei mir im Hinterkopf ist diese Aussage bei dem von uns so geliebten Torberg zu finden. Google bietet mir aber Henryk Broder – heute gänzlich auf dem neo-konservativen Müllplatz der Corona-Leugner und der AfD gelandet – an und zitiert seinen fulminanten ZEIT-Artikel „Ihr bleibt die Kinder Eurer Eltern – Euer Jude von heute ist der Staat Israel“.

Sei es wie es sei, gäbe es nicht den Antisemitismus, müsste man ihn gar erfinden, um all denen, die sich seiner bedienen ein Auskommen und eine Plattform zu bieten, wenn – ja, wenn – er nicht so lebensbedrohlich wäre.

Du fragst Dich, ob es ein Warum gibt. Es gibt immer ein Warum. Es gibt hunderte Warums für den Antisemitismus und die Diskussion darüber ist so endlos, wie fruchtlos. Mehr Wissen, das Du mir unterstellst, führt lediglich dazu, dass ich mich zwischen den Begriffen Judentum, Antisemitismus, Shoah und jüdischem Leben noch schneller im Kreise drehe als Du.

Ein Warum kann ich Dir allerdings sofort anbieten. Nämlich warum wir, also Du und ich und unzählige Jüdinnen und Juden – 77 Jahre nach Auschwitz – von der Betrachtung des Antisemitismus nicht loskommen und er unabdingbarer Teil unseres sogenannten „jüdischen Bewusstseins“ ist. Weil Antisemitismus für Dich und mich, unsere Lieben, die wir unsere Familie nennen dürfen, eben all das, was uns lieb, nah und „teuer“ ist – da freuen sich die Antisemiten, wenn wir diesen altertümlichen Ausdruck verwenden und diesen mit Geld = Jude = etc. in Verbindung setzen können – schlussendlich den Tod bedeutet. Mir scheint, dass dies bei all den Debatten um Antisemitismus viel zu oft vergessen wird.

Dabei wäre es doch scheinbar so einfach zu bestimmen, was Antisemitismus ist. Die von der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken verabschiedete Arbeitsdefinition lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Aber das ist eben zu vage, vor allem vor dem Hintergrund des israelbezogenen Antisemitismus, der gänzlich neue Player auf den Plan gerufen hat und der, zum Beispiel, durch den Report von Amnesty International wieder neu entflammt ist.

Es ist also auch eine durch innerjüdische Differenzen bestimmte Debatte, bei der auf der einen Seite sich die sich zu Unrecht des Antisemitismus bezichtigt fühlenden Israel- und Zionismuskritiker befinden, die aber im Kern nichts anderes tun, als das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen und auf der anderen Seite rechte, israelfreundliche Juden und Nichtjuden, die legitime Kritik am jüdischen Staat zu unterbinden suchen.

Und da sind wir mitten in der Debatte, die seit 2019 durch immer wieder neue, krude Geistespirouetten Israel, Juden, den Holocaust, deren Kontextualisierung und Einordnung und Sakrosanz in Frage stellen. Es gilt offensichtlich, mehr und mehr die Besonderheit der Shoah plattzuwalzen, ihre universelle Bedeutung zu vermindern und die Legitimität Israels in Frage zu stellen, um damit politisches Kleingeld zu wechseln.

Darüber kannst Du schon schreiben, aber wenn Du das dann tust, dann musst Du damit rechnen, dass die aufschreien, zu deren Lager Du Dich ein Leben lang zugehörig fühlst und andere applaudieren, deren Beifall Du überhaupt nicht willst.

Also überlege es Dir noch einmal und schreiben wir lieber darüber, wie wir beide am besten 120 werden.

Dein Awi


Awi Blumenfeld, in München als Sohn zweier Shoah-Überlebender geboren, lebt, liebt und leidet an Israel und Wien. Er ist Leiter des Instituts für Judentum an der KPH Wien/Krems sowie Leiter der historischen Kommission der Claims Conference in Tel Aviv, Berlin und Wien. Weigert sich vehement, als Fachmensch für Antisemitismus, Shoah, Judentum, zeitgenössische jüdische Geschichte, Zionismus, Israel Studies und jüdisches Essen angesehen zu werden, und freut sich auf den Hummus und Kaffee nach der Pandemie mit Harry Bergmann.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.


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