Lieber Herr Ludwig, ...

Ein Brief an Bürgermeister Michael Ludwig mit der Bitte, Bundeskanzler zu werden

Harry Bergmann
am 19.11.2021

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Wer könnte eine Bitte in Briefform ausschlagen?

… ich hätte natürlich mit „Lieber Herr Bürgermeister Ludwig“ beginnen sollen, denn dann hätten Sie gleich gewusst, dass es um eine wichtige Angelegenheit geht, bei der das Amt des Wiener Bürgermeisters eine nicht unerhebliche Rolle spielt.

Ich bitte Sie nämlich, dieses Amt zurückzulegen.

Nicht etwa, weil ich mich in Wien – unter Ihrer Führung – nicht wohlfühle, nein, ganz im Gegenteil. Sie machen das alles wunderbar, wenn ich mir als einfacher Bürger dieser Stadt überhaupt anmaßen darf, das zu sagen.

Obwohl genau darum geht es. Um die einfachen Bürger. Aber eben nicht nur um die einfachen Bürger von Wien, sondern von ganz Österreich. Ich spreche natürlich nicht für alle, aber für immer mehr. Täglich mehr und mehr.

Wir haben genug, endgültig genug! Wir haben es satt, endgültig satt!

Im Ernst, wir sind verzweifelt. Manche von uns lassen sich das nicht so anmerken und vielleicht ist es Ihnen deshalb noch gar nicht so aufgefallen. Da gibt es noch etliche, die sagen „Da kann man nichts machen“ oder „Vielleicht ist es eh bald vorbei“ oder „Man kann die Politiker nicht für alles verantwortlich machen“ (stimmt übrigens).

Lieber Herr Bürgermeister, wir kennen uns ja nicht – also ich kenne Sie natürlich schon, Sie aber mich nicht – und deshalb sind Sie mit den, wie soll ich sagen, „ausufernden Gedankengängen“ meiner Kolumne nicht so vertraut und denken sich jetzt wohl: „Wann kommt der endlich zum Punkt? Ich habe keine Zeit. Wien regiert sich nicht von selbst und mitten in der vierten Welle schon gar nicht.“

Also ich komme zum Punkt. Schließlich ist es ja auch keine Kolumne, sondern ein Brief.

Ich bitte Sie, Bundeskanzler zu werden. Das klingt jetzt ziemlich naiv, aber es ist ohnehin höchste Zeit, wieder auf die Kinder zu hören. Die Erwachsenen kriegen es irgendwie nicht hin. Schauen Sie sich doch die Welt an.

Ich weiß schon, dass Wiener Bürgermeister zu sein ein großartiger Job ist und höchstwahrscheinlich haben Sie immer davon geträumt, es zu werden. Sie können zwar nicht schalten und walten, wie sie wollen, aber fast. Sie haben keine große politische Konkurrenz. Sie haben Leute in der Stadtregierung, auf die Sie sich verlassen können. Wenn einer von denen sagt, dass es am nächsten Mittwoch einen Gipfel gibt, dann müssen Sie in der ZIB nicht sagen, dass Sie noch nie etwas davon gehört haben. Sie haben eine „Zukunftskoalition“ gebildet. Ich weiß zwar nicht ganz genau, was damit gemeint ist, aber ich habe mir um meine Zukunft in Wien ohnehin noch nie Sorgen gemacht. Ich wünschte, ich könnte das gleiche über Österreich sagen.

Ja klar, man wird nicht so einfach Bundeskanzler. Da muss die SPÖ erst einmal eine Wahl gewinnen. Und dazu muss es überhaupt eine Wahl geben.

Ich stell mir das so vor: Sie geben eine Pressekonferenz und sagen:

„Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle, die in Österreich leben (das müssen Sie unbedingt so sagen), wir gehen durch eine furchtbar schwere Zeit. Nicht nur, dass uns dieses Virus piesackt (sie müssen natürlich nicht „piesakct“ sagen, wenn Sie sich damit nicht wohlfühlen), wir piesacken uns auch gegenseitig (wenn Sie allerdings beim ersten Teil des Satzes „piesackt“ gesagt haben, dann bitte jetzt nochmals). Es ist nicht unbedingt leicht für einen Politiker in dieser Situation das Richtige zu tun. Aber so schwer, wie das bei einigen meiner Kollegen aussieht, ist es auch wieder nicht. Es kommt eigentlich nur auf zwei Dinge an. Erstens mit Experten reden – nicht mit einem, nicht mit zwei, sondern mit mehreren – zuhören und lernen, lernen und lernen und dann entscheiden, denn dafür ist ein Politiker gewählt worden. Und zweitens, an die Menschen denken, die einem anvertraut wurden, ob sie einen nun gewählt haben oder nicht, und überlegen, was für die Mehrheit dieser Menschen das Beste ist und nicht, was für einen selbst das Beste ist. Da das leider oft das genaue Gegenteil ist, läuft genau hier einiges schief. Als ich Wiener Bürgermeister geworden bin, dachte ich, dass das der Höhepunkt und die letzte Etappe meiner politischen Karriere sein wird. Aber ich sehe, was ich sehe und kann nicht tatenlos zusehen. Das ist nicht der Grund, warum ich Politiker geworden bin. Daher werde ich versuchen, Bundeskanzler von Österreich zu werden. Ich weiß natürlich nicht, ob es mir gelingen wird, aber ich könnte es mir nicht verzeihen, es nicht einmal versucht zu haben.“

Bevor Sie den Kopf schütteln, lieber Herr Bürgermeister, schenken Sie mir bitte noch kurz Ihre Aufmerksamkeit. Sie müssen es JETZT machen. Sie müssen JETZT Neuwahlen fordern. Ich weiß, dass es angeblich ein ungeschriebenes Gesetz gibt, dass derjenige, der Neuwahlen fordert, sie dann auch verliert. Dann sagen sie einfach: „Das ist keine Neuwahl. Das ist eine Notwahl.“ Es wird nicht leicht, denn für viele sind „die Roten“ ein rotes Tuch. Aber ich traue gerade Ihnen zu, über Parteigrenzen hinauszudenken und das zu erreichen, was das Land am nötigsten braucht: Versöhnung, sozialer Frieden und Einheit.

Ich muss Sie leider drängen. Wenn Sie zu lange warten, werden Ihre zukünftig notwendigen Koalitionspartner – von denen ich persönlich hoffe, dass es die Grünen und die Neos sind – wieder schwächer und Ihr größter politischer Gegner – von dem ich hoffe, dass es der Herr Kickl ist – stärker. Ja, und sollten sich die Schwarzen wieder von den Türkisen emanzipiert haben, dann können Sie auch eine große Koalition bilden. Das ist mir persönlich zwar nur das Zweitliebste, aber um mich geht es wirklich nicht und alles ist besser, als es jetzt ist.

Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, dass ich Ihnen ein bisschen Ihrer wertvollen Zeit gestohlen habe, aber ich will einfach nicht mehr, dass man mir und meinen Leidensgenossen noch weiter die Zeit stiehlt.

Mit ehrerbietigen Gruß,

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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