Der Anfang der Toleranz

Harry Bergmann erinnert an die 83 Jahre zurückliegenden Novemberpogrome: Das Ende der Toleranz, der Anfang der Barberei.

Harry Bergmann
am 09.11.2021

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Magdeburg, zerstörtes jüdisches Geschäft | Foto: Bundesarchiv | Friedrich, H. | CC-BY-SA 3.0

In einem meiner Lieblingsblogs „hannesschreibt.com“ (ja, das ist eine Leseempfehlung) lese ich, dass mein Freund Hannes Sonnberger das Ende der Toleranz ausruft. Er zitiert Kurt Tucholsky, der Toleranz als den Verdacht, der andere könnte vielleicht doch recht haben, definiert. Hannes ist also davon überzeugt, dass der andere mit absoluter Sicherheit nicht recht hat. Der andere oder die andere ist in diesem Fall der Impfgegner oder die Impfgegnerin. Hannes ist genervt und ich verstehe ihn.

Am selben Abend sitze ich mit Freunden in einem meiner Lieblingslokale „Manta Ray“ in Tel Aviv (ja, das ist eine Lokalempfehlung) und schon wieder geht es um Toleranz und schon wieder sitzt Kurt Tucholsky mit seinem berühmten Satz quasi an unserem Tisch. Diesmal überwiegt allerdings – knapp – der Verdacht, dass der andere doch recht haben könnte. Der andere oder die andere ist natürlich wieder der Impfgegner oder die Impfgegnerin. Worüber soll man denn heutzutage sonst reden?

Kann der unterschiedliche Toleranzansatz Impfgegnern gegenüber daran liegen, dass Hannes den Blog in Wien geschrieben hat und wir hier im relativ coronasicheren Israel sitzen? Mag sein. „Mit vollen Hosen ist leicht stinken“, sagt zwar nicht Tucholsky, es ist aber dennoch nicht ganz falsch.

Ich sag’s gleich: ich bin dreimal geimpft, bin stolzer Besitzer eines österreichischen und eines israelischen, digitalen Impfpasses und ich werde mich in 6 Monaten wieder impfen lassen (ja, das ist eine Impfempfehlung). Ich erwähne das jetzt nicht, weil ich mich damit einer Impf-Aristokratie zugehörig fühle, sondern um mich in dieser Frage zu „verorten“, wie das so schön geschwollen heißt. Und ich, der Verortete, habe mir vorgenommen, weiter gegen das Impf-Gegnertum zu argumentieren, aber nicht mehr mit Schaum vor dem Mund und dem üblichen Tourette Syndrom „Schei … Impfgegnergfraster, der Teu … soll Euch holen, es gschi … Gfraster, es.“

Mein israelischer Yogalehrer (ja, das ist eine Yoga-Empfehlung) ist nicht geimpft. Er lebt in the middle of nowhere. Bevor Sie sich jetzt leicht erregt aufrichten, um mir etwas Anti-Imperialistisches entgegenzuschleudern, lassen Sie sich wieder ganz entspannt in Ihr Polstermöbel zurückfallen: es ist innerhalb der Grenzen von vor 1967. Er ist nicht nur Naturliebhaber, sondern auch Naturheilmittel-Liebhaber. Er passt ganz genau auf, was er isst und was nicht, was er seinem Körper zumutet und was nicht. Um sein Social Distancing noch zu erhöhen, macht er seit Beginn der Pandemie fast nur mehr Zoom-Sessions. Wenn mir dieser Mann sagt, dass er sich „lieber nicht impfen lässt“, obwohl er versteht, dass ich mich schon impfen lasse, dann habe ich den Tucholsky’schen Verdacht, er könnte vielleicht doch recht haben.

Übrigens, der israelische, digitale Impfpass ist viel netter, als der österreichische. Er ist animiert und zeigt Kinder, die eine Wasserrutsche hinunterrutschen. Na, sehr geehrte Frau Tourismusministerin, liebe Elli, wie wäre es mit einem animierten österreichischen Impfpass, der skifahrende Kinder zeigt, wie sie – mit Helm – die schneebedeckten Hänge hinunterfahren. Nur so als Zeichen, dass man es mit den Corona- Sicherheitsbestimmungen ernst meint und nicht, wie letztes Jahr: „Mir sperren die Berg‘ auf, egal was passiert und wenn noch einmal einer „Ischgl“ sagt, dann wird er uns kennenlernen.“ Ich sehe schon, diesen Impfpass wird es nie geben.

Schon seltsam, dass ich ausgerechnet heute, am 9. November, eine Kolumne über Toleranz schreibe. Heute vor 83 Jahren, also am 9. November 1938, war die einst so genannte Kristallnacht. Wenn ich daran denke, dann muss ich mir noch einmal ein Zitat von Hannes Sonnberger ausborgen. Er zitiert in seinem Blog nicht nur Tucholsky, sondern auch Karl Popper, dass Toleranz gegenüber Intoleranz, das Ende einer offenen Gesellschaft bedeuten würde. Daher muss sich eine Gesellschaft mit aller Kraft und allen legalen Mitteln gegen das wehren, was am 9. November 1938 passiert ist. Über tausend jüdische Synagogen brannten, tausende jüdische Geschäfte wurden geplündert, jüdische Friedhöfe wurden geschändet. Hunderte Juden wurden vom Mob getötet oder nahmen sich vor Angst das Leben. Meine Großeltern wurden aus Ihrer Wohnung gezerrt und auf die Straße getrieben. Wir werden es nicht vergessen und ich sehe auch gar keinen Grund, es zu vergeben. Dazu reichen diese 83 Jahre nicht und auch nicht alle weiteren 83 Jahre. Soviel zur Grenze der Toleranz. Zumindest meiner.

Unter dem Motto „Erinnern heißt verändern“ gab es dieser Tage in Wien eine Aktion der Jüdischen Österreichischen Hochschüler. 23 nach „besonderen“ Antisemiten benannte Straßen wurden mit Namen von Widerstandskämpfern und -kämpferinnen überklebt. Wenn Popper von einer offenen Gesellschaft spricht, dann ist Wien mit dieser Aktion eine offenere Stadt geworden. Als ich das heute auf Twitter retweetet habe, sind mir innerhalb von 5 Minuten gleich 10 Follower abhandengekommen. Fein, dass ich jetzt einen „offeneren“, toleranteren Twitter Account habe.

Toleranz ist eine Bringschuld. Man kann sie nicht von anderen einfordern, man muss schon selbst den Anfang machen. Es ist nicht leicht, vor allem dann, wenn wenig zurückkommt (ja, das ist eine Empfehlung zur Toleranz).

Noch schnell eine letzte Empfehlung für heute: lesen Sie bitte den letzten Blog (gehoertgebloggt.com) von Stefan Kappacher: „Wetten, dass“ in Türkis. Großartig. Ich muss allerdings sagen, dass mir das mit der Toleranz echt schwergefallen ist. Aber ich bin ja auch erst ein Toleranz-Anfänger.

Meint

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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