Die Moderaten und die Drüberfahrer

In der Politik siegen meist jene, die man nicht braucht. Jene, die keine Gräben graben, kommen nicht durch. Warum ist das so?

Harry Bergmann
am 04.11.2021

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Manchmal fast zu nahe an der Realität: Borgen| Screenshot: Netflix

Ich schaue gerade auf Netflix die dänische Serie „Borgen“. Borgen (Burg) ist der Sitz des dänischen Parlaments. Es geht um Machenschaften und Seilschaften innerhalb der Politik (bekannt?), innerhalb der Medien und vor allem zwischen der Politik und den Medien (bekannt?). Es geht um Macht und Missbrauch der Macht. Sollten Sie sich unbedingt ansehen. Natürlich erst nachdem Sie „Camp Confidential“, die Netflix-Kurz-Doku meiner Söhne gesehen haben. Also „Kurz“-Doku nicht im Sinne von „Basti“-Doku, sondern im Sinne des Gegenteils von „Lang“-Doku.

Natürlich ist Borgen voller Klischees. Sozialisten, die nicht mehr wissen, wofür sie stehen, seitdem sie keine Arbeiterpartei mehr sind (bekannt?); Konservative, denen keine Intrige fremd ist, vor allem die innerparteiliche (bekannt?); Liberale, die sich zu viele Freiheiten herausnehmen; Grüne, die – kaum in der Regierung – über ihren ökologischen Schatten auf den Schoß von Großinvestoren hüpfen. Apropos „hüpfen“: es wird natürlich auch von Hapfn zu Hapfn gehupft, aber da wollen Sie sich sicher selbst ein Bild davon machen.

Auftritte, Rücktritte, Fehltritte, Spins und Frames, wohin man schaut. Und in der Mitte eine fiktive Partei, die „Moderaten“. Und natürlich gewinnen die „Moderaten“ alles, was es zu gewinnen gibt und die Parteivorsitzende wird die beste Premierministerin, die Dänemark je hatte.

Und jetzt frage ich mich natürlich, ob so eine moderate Partei irgendwo auf dieser Welt, aber insbesondere in der schönen Alpenrepublik, in der Heimat des Pferdeentwurmers reüssieren könnte. Eine Partei, die moderat im Gestus, aber unbeugsam in der Haltung ist. Eine Partei, die weniger verspricht, dafür aber mehr hält und nicht genau umgekehrt. Eine Partei, die nicht ständig „JETZT NEU!“ schreit, als würde sie eine Karottenschälmaschine vor einem Kaufhaus anpreisen. Okay, okay, schon verstanden: so eine Partei gibt es nur auf Netflix.

Aber warum ist das so?

Bräuchten wir nicht gerade jetzt Beruhiger, Ausgleicher, Erklärer, Dilemma-Versteher, Zusammenführer, Aufeinander-Zugeher? Ach Gott, warum klingt das alles wie Warmduscher? Bräuchten wir nicht gerade jetzt Politiker, die aus dem schiachen Fleckerlteppich, den wir aus unserer Gesellschaft gemacht haben, wieder ein zusammenhängendes Stück machen, das sich herzeigen lässt? Bräuchten wir nicht gerade jetzt einen gemeinsamen Geist, der all diese Panzerknackerbanden zum Teufel jagt?

Die Menschheit ist immer schon Demagogen und Verschwörungstheoretikern aufgesessen, aber warum gerade jetzt wieder in so einem Ausmaß? Covid kann ja nicht an allem schuld sein. Irgendwann muss sich unlängst wieder kollektiv ein Schalter umgelegt haben, der die Sauerstoffzufuhr zum Hausverstand unterbrochen hat.

Also noch einmal: warum ist das so?

Es ist vielleicht die Art, wie wir miteinander kommunizieren. Und damit die Art, wie die Politik mit uns kommuniziert. Ganz zu schweigen von der digitalen Beschleunigung dieser Kommunikation.

Ein kurzer, lauter, falscher Satz ist schon dreimal, um den Erdball rotiert, bis der lange, leise, reflektierte Satz überhaupt angedacht ist. Fragen Sie Trump.

Der Satz, der vom Gegenüber gehört werden will, braucht gar nicht erst auf der anderen Seite anzukommen, weil er ja eh schon dort ist. Fragen Sie jeden einzelnen Populisten.

Diskurs ist abgesagt. Keine Zeit. Keine Lust. Und ehrlich gesagt, keine Notwendigkeit. Es geht viel leichter ohne.

Nehmen wir zum Beispiel den Herrn – Nationalratspräsident lasse ich weg – Sobotka. Ein Mann mit der Physis und der Psyche eines Bulldozers. Das Role Model des Drüberfahrers. Dabei sollte er ja von Amts wegen ein Drübersteher sein. Ein Mann, der durch seinen Vorsitz jeden Untersuchungsausschuss der Lächerlichkeit preisgibt. Ein Mann, der in einem Orchester nur der Dirigent sein kann, weil er wohl niemanden über sich erdulden kann. Außer einen vielleicht, und deshalb betet er manchmal sogar am Arbeitsplatz. Ein Mann, der weiß, wie es auch außerhalb der Politik läuft und sogar Wolfgang Fellner das Wesen eines Gegengeschäfts vor laufender Kamera erklären kann. Wie soll guter Parlamentarismus funktionieren, wenn das der Kopf ist?

Nehmen wir zum Beispiel den Herrn – Sektionschef lasse ich weg – Pilnacek. Ein Mann, der Sympathie und Gerechtigkeitssinn mit bescheidenem Auftreten paart. Ein Mann, der vom Gericht bestätigt bekommen hat, ein Whistleblower zu sein. Ein Mann, der von der Anklagebank aus dem Ankläger erklärt, wie er ihn anzuklagen hat. Ein Mann, der das juristische Florett wie kaum ein anderer beherrscht, sich aber dann doch lieber auf den Prügel verlässt. Ein Mann, der viele Freunde hat, die er nicht gern sitzen lässt. Wie soll die Justiz funktionieren, wenn das ihr höchster Beamter ist?

Solche Grabengräber – und von der Sorte gibt es genug – bestimmen heute meist den Lauf der Dinge. Moderate, gemäßigte, zurückhaltende, bescheidene, angemessene Politiker gibt es natürlich auch, aber – außer in Netflix-Serien – findet man sie selten auf der Seite der Sieger.

Während ich diese Zeilen schreibe, hat gerade wieder ein Moderater eine Schlappe erlitten, Joe Biden. Der Gouverneurssessel in Virginia ist für die Demokraten pfutsch. Und wenn es noch blöder kommt, dann ist auch bald die Mehrheit im Repräsentantenhaus pfutsch. Und wenn es ganz ganz blöd kommt, dann ist auch Trump wieder da.

Übrigens: in „Borgen“ verlieren die Moderaten am Ende auch.

Das muss natürlich nichts heißen, meint

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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