Bibi und der Friseur

Just zur Feier der 100. Ausgabe dieser Kolumne drängen sich dem Beobachter erneut Parallelen zwischen Trump, Netanjahu und Kurz auf

Harry Bergmann
am 01.11.2021

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Archiv foto Sebastian Kurz in Israel| APA/ Robert Jäger

Das ist also die einhundertste Loge 17. Loge 1700, sozusagen. Das sind immerhin neunzigtausend Worte, das sind ungefähr fünf Stunden Lesezeit, das ist einhundertmal mir selbst auf die Zunge Beißen oder auf die Finger Klopfen, um nicht – in der meist selbst aufgeschaukelten Erregung – verbal zu entgleisen, das ist sicher nicht „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Márquez, aber zumindest einhundertmal jene große Freude zu spüren, die man beim Komponieren empfindet. Wenn schon nicht Noten, dann eben Buchstaben.

Ich kann meinen Lesern nie etwas Neues erzählen, etwas das sie sonst nicht erfahren würden. Ich bin kein Journalist, der Zugang zu Informationen hat, die andere nicht haben. Ich weiß um keinen Beistrich mehr, als meine Leser – Beistriche sind so oder so nicht mein Ding – aber ich schau gerne wohin und schreibe dann, was ich dabei empfinde. Das müssen offensichtlich einige andere auch so empfinden, sonst würde sich ja nicht – Woche für Woche – eine Anzahl von Lesern finden, die einem „echten“ Kolumnisten vielleicht lächerlich erscheinen mag, für mich aber großartig ist. Hundert Dank.

In den letzten sechzehn Monaten ist viel Nach-einer-Kolumne-Bettelndes passiert. In beiden meiner Heimaten.

Der Auf- und Fallwind des talentierten Herrn Kurz, der geglaubt hat, noch viel talentierter zu sein als alle anderen zusammen.

Der Zufallsbefund einer heimtückischen Amnesie des Finanzministers bei einer ganz anderen Untersuchung.

Das gelungene Verfassen einer Ausschreibung für einen Job, der dann doch nicht ganz so gelungen geendet hat.

Das Entdecken von fesch gekampelter Meinungsforschung für fesch gekampelte junge Herrn.

Eine grüne Partei, die alle Ihre Werte in der Koalitions-Garderobe abgegeben hat, bis sie sich – völlig nackt jeder anderen Möglichkeit – auf die Suche nach einer untadeligen Person gemacht hat.

Eine rote Partei, die nur deshalb, bewegungslos, noch nicht völlig untergegangen ist, weil der Neusiedlersee so seicht ist.

Eine blaue Partei, die jeglichem Hausverstand spottet, aber trotzdem mehr und mehr Zustimmung findet, was einem wirklich den Verstand rauben kann.

Ein Untersuchungsausschuss, der – längst überfällig – das Wort „Oasch“ salonfähig gemacht hat.

Und natürlich die Chats, die „Privat ist privat“-Chats. Diese Kolumne gibt mir endlich die Gelegenheit, auf eine mir – im Zusammenhang mit diesen Chats – persönlich gestellte Frage zu antworten. Ich wurde nämlich von Frau Köstinger und Herrn Khol gefragt – sie haben mir dabei aus dem Fernseher direkt in die Augen geschaut – ob ich nicht auch schon einmal den einen oder anderen Chat in der Hitze des Gefechts verfasst habe, den ich heute so nicht mehr schreiben würde. „Sehr geehrte Frau Köstinger, sehr geehrter Herr Khol, da ich weder Bundeskanzler bin oder war, weder Vorstand der Öbag bin oder war, weder Sektionschef im Justizministerium bin oder war, kann ich diese Frage ganz leicht beantworten: ICH kann schreiben, was ich will.“

Und meine andere Heimat?

Auch darüber wurde ich gefragt. Nämlich, wie ich in einer meiner letzten Kolumnen zu dem Befund gekommen bin, dass die derzeitige Koalition in Israel funktioniert. „Against all odds“ funktioniert. Vielleicht war diese Frage sarkastisch gemeint, aber ich versuche sie dennoch möglichst unsarkastisch zu beantworten. Der UHU, der diese 8-Parteien-Koalition zusammenhält, heißt Bibi. Oder besser: alle gegen Bibi. Ich finde es übrigens seltsam, dass Netanjahu von der halben Welt mit der in Israel verwendeten Abkürzung seines Vornamens Benjamin, genannt wird. Diese Vertraulichkeit und Intimität steht eigentlich nur seinen Anhängern und intimen Gegnern zu. Aber das ist vielleicht die gerechte Ernte eines Populisten.

Jedenfalls ist Netanjahu – zumindest als Bedrohung der derzeit Regierenden – noch immer die wichtigste politische Figur in Israel. Noch. Seine Versuche, sich wieder in das Zentrum der Macht zurückzukämpfen, werden aber immer untauglicher, erratischer, ja lächerlicher. Letzte Woche, zum Beispiel, behauptete er, dass er das Lokal seines Friseurs kaum verlassen konnte, weil eine riesige Menschenmenge, die ihm zujubelte, daran hinderte. Blöderweise gab es Aufnahmen, die zeigten, dass gerade einmal zwei Personen anwesend waren. Seine Partei schweigt dazu. Noch.

Das erinnert an Trump und die „größte Menschenmenge, die je einer Inauguration eines amerikanischen Präsidenten beigewohnt hat“ und den Luftaufnahmen, die dann ungefähr 300.000 statt 900.000 Besucher zeigten. Seine Partei schweigt dazu. Noch.

Der politische Nimbus ist eine untreue Seele. Er verabschiedet sich schneller, als es den meisten machtbesessenen Politikern lieb ist. Daran sollte auch einmal die ÖVP in Ruhe denken oder der Herr Sobotka, der wieder einmal den unterparteilichen Vorsitz eines Untersuchungsausschusses übernimmt. Um zu retten, was zu retten ist. Es ist aber nichts zu retten. Die Partei schweigt dazu. Noch.

Trump, Netanjahu, Kurz. Republikaner, Likud, Österreichische Volkspartei. Vielleicht wäre es doch einmal angebracht, aus der Geschichte zu lernen.

Meint Ihr

Harry Bergmann

Moses wurde 120 Jahre alt. Daher wünscht man in der jüdischen Gemeinde einem Geburtstagskind „Bis 120“. Es möge also das Alter unseres Urvaters erreichen. Eine erfolgreiche Erfüllung dieses frommen Wunsches ist zwar noch nicht zu vermelden, aber deshalb reden wir hier ja auch über eine Glaubensfrage. Anlässlich meiner hundertsten Kolumne nehme ich mir jedenfalls das „Bis 120“ zu Herzen. 20 weitere Kolumnen, Sie lesend, ich schreibend, das werden wir ja wohl auch noch gemeinsam schaffen, oder?


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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