Ich will wählen

Von raschen Neuwahlen würden Türkise und Blaue profitieren, heißt es. Trotzdem sollte man das Wahlvolk nach dieser Regierungskrise an die Urnen lassen.

Harry Bergmann
am 18.10.2021

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Archivbild | APA/Georg Hochmuth

Ich sage das nicht oft und nicht gern, glauben Sie mir, aber die Deutschen haben es gut. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob die überhaupt wissen, wie gut sie es haben. Berechtigte Zweifel daran sind angebracht. Nehmen wir zum Beispiel Noch-Bundeskanzlerin Merkel. Je länger sie – also die Deutschen – Merkel hatten, desto mehr hatten sie an ihr auszusetzen. Ihre Muttihaftigkeit, die angeblich alles zudeckte und Deutschland nicht gestattete, sich so aufzustellen, wie es hartgesottene „Deutschland, Deutschland über alles“-Ehrgeizlinge gern gesehen hätten. Und jetzt, wo sie so gut wie weg ist, wieder Gejammer. Diesmal wenigstens zu Recht, denn eine wirklich Große geht da ab und nimmt ihre ganze Weisheit, ihren Humanismus und ihren wissenschaftlich-analytischen Verstand mit nach Hause. Und die Union nach Merkel? Die kann gar nicht so alt werden, wie der lasche Laschet jetzt schon aussieht und Söder braucht nicht so hämisch zu grinsen, denn er hat auch schon bessere Umfragen gesehen.

Aber was ist das alles gegen unsere sieben – sieben? – türkisen Zwerge, die ihre Kopferln immer tief in ihre Mobiltelefone gesteckt haben und nur dann aufblickten, wenn sie gerade das nächste Level in Candy Crush erreicht hatten, um dann gleich wieder in ihr Whatsapp abzutauchen und lustige Textchen über Erwachsene auszutauschen.

Ich habe sie zwar mein ganzes Leben lang nicht gewählt und werde sie wohl auch nicht wählen, aber kann ich bitte wieder die Schwarzen zurückhaben? Bitte! Ich nehme sogar die Bigotterie von Khol & Co. demütig in Kauf. Ich werde die Habgier der finsteren Seilbahn-Fuzzis als reine Philanthropie preisen. Ich mache alles, was in meiner Macht steht, auch wenn das angesichts der Macht, über die wir hier reden, wirklich lächerlich ist. Und wenn ich die Schwarzen wiederhabe, dann reden wir in aller Ruhe über mögliche Koalitionen.

Und genau deshalb noch einmal: Die Deutschen haben es gut. Die haben entweder die Ampel oder Jamaika. Beides honorige Koalitionen, die nicht im Traum an der AfD und ihrem faschistoiden Reflux anstreifen. Zugegeben, das müssen sie koalitions-arithmetisch auch nicht, aber es wäre so oder so ein undenkbares Szenario.

Und was haben wir? Wir haben die Schampfen. Ich habe mir erlaubt, angesichts der galoppierenden Verrohung der Sprache diese Abkürzung zu wählen. Selbst wenn Sie das nicht dechiffrieren können (ich sage nur, dass es was mit dampfen zu tun hat), wissen Sie ja selbst genau, was wir derzeit haben.

Wir haben eine Regierung, der man den Kopf abgehackt hat und die ergo kopflos durch die Gegend rennt. Wir haben einen adeligen Pressesprecher des abgehackten Kopfes, der selbst überrascht ist, dass alle „Bundeskanzler“ zu ihm sagen. Wir haben die Grünen, die sich monatelang vom abgehackten Kopf waterboarden haben lassen und sich jetzt an der eigenen Courage verschlucken. Wir haben eine Opposition, die ungeniert zu Kickl hinüberschielt, weil sie ihn als Taxi zum Ballhausplatz braucht.

So geht es nicht weiter. Wir werden doch nicht ernsthaft glauben, dass sich irgendetwas ändert, wenn wir nicht etwas ändern. Die einzige Möglichkeit, wie wir, die Wähler, etwas ändern können, ist wählen.

Ja, ich will wählen.

Bevor jetzt alle über mich herfallen und mir erklären, was für ein ausgemachter Trottel, unpolitischer Naivling und spätpubertierender Polit-Romantiker ich bin, lassen Sie mich bitte folgendes sagen:

Ich weiß, dass man nach so einer Wahl genauso vertrackt dastehen kann, wie vorher. Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich.

Ich weiß, dass die Politiker jetzt arbeiten und nicht wahlkämpfen sollen. Aber wir brauchen keinen großen Wahlkampf. Die letzten Wochen und Monate haben ein komplettes Bild über alle wichtigen Politiker ins Haus geliefert. Wir müssen uns nicht hanebüchene Versprechungen anhören, wir können evidenzbasiert – wie es so schön heißt – wählen. Und außerdem: ob sie nicht für uns arbeiten, weil täglich etwas Neues auftaucht, das es zu leugnen gibt oder weil sie durch Bierzelte tingeln, is a scho wurscht.

Ich weiß, dass eine Wahl der bessere Wahlkämpfer gewinnt und nicht unbedingt der bessere Politiker. Aber Demagogie ist halt auch ein Teil der Demokratie. Volksführung und Volksverführung lagen immer schon nahe beieinander.

Ich weiß, dass die FPÖ vielleicht der große Sieger dieser Wahl sein kann, aber dann ist sie es – ob es mir in den Kopf gehen will oder nicht – auch ohne Wahl.

Ich weiß, dass die Wahl den von mir sehr verachteten Herrn Doskozil, den Rechtesten aller Roten, der sich viel besser als der Linkeste aller Blauen machen würde, in die Löwelstrasse bugsieren könnte. Aber dann hat die SPÖ nichts gelernt und nichts Besseres verdient.

Ich weiß, dass gewisse Medien gewisse Parteien hinauf- oder hinunterschreiben werden, aber vielleicht werden sie diesmal zumindest mit Umfragewerten ein bisschen vorsichtiger sein müssen.

Ich weiß, dass eine Wahl eine Wahl ist und anschließende Koalitionsverhandlungen anschließende Koalitionsverhandlungen sind.

Ich weiß das alles, aber ich bin ein Wähler und möchte wählen.

Meint

Ihr Harry Bergmann

Morgen fahre ich nach Jerusalem. Ich bin zur Gedenkfeier anlässlich der Ermordung von Jitzchak Rabin eingeladen. Ich werde sicher darüber nachdenken, warum es gewisse Politiker-Persönlichkeiten nicht mehr gibt. Aber es wird nichts daran ändern, dass ich wählen will.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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