Wenn sich der Staub legt

Dass die SPÖ offenbar bereit war, mit der FPÖ zu koalieren, ist enttäuschend. Zeit für einen neuerlichen Auftritt von Brigitte Bierlein!

Harry Bergmann
am 13.10.2021

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Bierlein und Van der Bellen | Archiv foto: APA/Herbert Neubauer

Da sitz ich also wieder. Im Flug OS 857 von Wien nach Israel, meiner „anderen“ Heimat. Ich habe früher die beiden Heimaten nummeriert, also erste und zweite. Das tue ich jetzt nicht mehr, weil ich mit der Ambivalenz, was jetzt meine erste Heimat ist und was meine zweite, nicht wirklich zurechtgekommen bin. „Ja, aber wieso? Du lebst doch schon fast Dein ganzes Leben lang hier.“ „Ja, aber wieso? Heimat ist doch kein Ort, sondern ein Gefühl.“ „Ja, aber wieso? Man muss doch wissen, wohin man gehört.“ „Ja, aber wieso? Was hast Du empfunden, als Israel gegen Österreich 5:2 gewonnen hat?“

Ich bin in Israel geboren, ich bin Jude, ich muss mit dem Antisemitismus, den es noch immer und schon wieder in Österreich gibt, leben. Ich muss meinen Beitrag leisten, ihn anzuprangern und zu bekämpfen. Ich verachte daher jede Anbiederung an die FPÖ, auch wenn sie nur „taktischer Natur“ ist. Man muss mir nicht erklären, dass nicht alle, die die FPÖ wählen, Neonazis sind. Man muss mir nicht erklären, dass Kickl auch Dinge sagt, die stimmen. Ich weiß dennoch, warum ich bei jeder Wahl meine Stimme genau entlang dieser persönlichen roten Linie abgegeben habe und auch in Zukunft abgeben werde. Ich weiß nämlich auch, dass eine demokratisch gewählte Partei, nicht unbedingt eine demokratische Partei sein muss. Aber: Ich lass mir die Schönheit des Landes, den kulturellen Reichtum, den Platz, an dem meine Kinder geboren wurden, den Platz an dem meine geliebten Eltern und meine geliebte Frau für immer liegen und vor allem die Herzenswärme meiner vielen, vielen Freunde nicht verleiden. Punkt.

Ich liebe Israel und bin gerade deshalb mit vielem, was dort passiert ganz und gar nicht einverstanden. Aber ich werde das nur mit meinen israelischen Freunden, die in vielen Kriegen ihr Leben riskiert haben, damit Israel überhaupt noch existiert, diskutieren. Ich werde mich jedem widersetzen, der das Existenzrecht Israels auch nur im Entferntesten anzweifelt oder den Israelis erklären möchte, was sie zu tun oder wie sie zu leben hätten, damit sie sich als Juden nicht wieder den Unmut der Welt zuziehen. Punkt.

Warum erzähle ich Ihnen das? Erstens weiß ich das gar nicht so genau und zweitens vermute ich, dass mein Hin- oder Rückflug nach Israel immer solche Gedanken in mir hochkommen lässt. Diesmal ist allerdings nicht „immer“, denn der Flug hat schon etwas Besonderes. Die Wolken, die ich über Österreich sehe, sind nämlich nicht nur Wolken, sondern auch der aufgewirbelte Staub der letzten Tage. Ich muss gestehen, dass ich diesmal – aus einigen, aber insbesondere aus einem Grund – lieber in Österreich geblieben wäre. Ich wüsste nämlich allzu gern, was zu sehen sein wird, wenn sich der Staub gelegt hat.

Zeitgleich mit meinem Abflug fand die berühmte Sondersitzung im Nationalrat statt. Der neue Bundeskanzler hat seine Antrittsrede gehalten, die ich nachgelesen, nachgehört und nachgesehen habe. Tja, was soll ich sagen? Alle, die – so wie ich – gehofft haben, eine mutige Rede zu hören nach all dem Entmutigenden der letzten Wochen, sind natürlich enttäuscht. All die, die genauso weiterwurschtln wollen, wie bisher, können sich beruhigt zurücklehnen. Es wird weitergewurschtlt.

Eine Hoffnung bleibt, auch wenn sie stündlich kleiner wird. Die Hoffnung, dass der neue Bundeskanzler eines Tages aufwacht und realisiert, dass er nicht der Neue, sondern der Bundeskanzler ist. Der Chef einer Firma, die schon bessere Zeiten gesehen hat, die aber umzukrempeln ist. Man muss nur endlich damit anfangen.

Nachdem der Staub in meinem Kopf langsam zu sinken beginnt, kann ich zumindest mit einiger Klarheit sagen, wie ich die Situation empfinde.

Ja, das vielzitierte „System Kurz“ ist natürlich noch da. Und ja, es hätte – wenn es nach meinem Geschmack gegangen wäre – auch noch den einen oder anderen „derennen“ sollen. Aber was stand auf der anderen Seite der Straße und wartete nur darauf sich in Bewegung zu setzen: die FPÖ.

Kogler zündelte und es fehlte nicht viel und die Hütte hätte lichterloh gebrannt. Ich hätte ihm den eiskalten Pokerspieler, der All-In geht, gar nicht zugetraut und hoffe inständig, dass es tatsächlich „nur“ ein riesiger Bluff war.

Was sich mir leider gar nicht als Bluff dargestellt hat, war der Spielzug (eher: Ernstzug) von PRW. Von allen guten Geistern verlassen, halluzinierte sie sich als Bundeskanzlerin an die Spitze einer Koalition, die Herbert Kickl wieder satisfaktions- und salonfähig gemacht hätte. Wenn sich in Wirklichkeit nicht die gesamte Partei hinter der Vorsitzenden versteckt hat („Geh Du vor, Pam.“), dann möge diese Partei jetzt vortreten und sich bei all jenen entschuldigen, die sie jahrelang gewählt haben, weil sie eine Koalition mit der FPÖ kategorisch ausgeschlossen hat. Und jetzt das! Shame on you!

Gerade wollte ich schreiben, man soll der Regierung eine Bewährungsfrist von 100 Tagen geben, da legte BMR mit einem sehenswerten Ausfallschritt die 104 Seiten auf den Tisch des Kanzlers. Das und was dann passierte, wird Geschichte. Bevor der Papierstapel noch den Boden berührte, war eines klar: Der Herr Bundespräsident muss schleunigst wieder durch die Tapetentür kommen und Frau Bierlein, die sich zu diesem Anlass ein himbeerfarbenes Kostüm hat machen lassen, angeloben.

Aber mich fragt ja – Gott sei Dank – keiner.

Ihr

Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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