Der Gott des Gemetzels

Das Kartenhaus der türkisen ÖVP droht zwar einzustürzen, doch man sollte das "Jetzt-erst-recht"-Potenzial der Partei nicht unterschätzen. Und hat eigentlich jemand die SPÖ gesehen?

Harry Bergmann
am 08.10.2021

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Foto: Screenshot/ZiB2/ORF

Vor Kurzem schrieb ich noch über das Shakespearehafte der deutschen Wahl und wie „gebacken“ (sprich: bochen) es dagegen bei uns zugeht. Das Höchste der Gefühle war da schon die Klage von Kickl gegen Rosam oder das Verunglimpfen der „Mit freundlichen Grüßen“-Abkürzung durch Spinner in Oberösterreich.

Und plötzlich, bumm zack, ein paar nette, morgendliche Hausbesuche und das Land steht Kopf. Ich selbst verbrachte den ganzen Mittwoch damit, Nägel zu kauen und der ZIB2 entgegenzufiebern. Ich stellte mir in allen möglichen Varianten vor, wie Armin Wolf den Kanzler – oder das, was von ihm am Abend noch übriggeblieben sein würde – zerlegt. Auch versuchte ich mich in Wortspielen, die ich dann mit denen von Professor Filzmaier vergleichen wollte.

Dann endlich, 22 Uhr. Sebastian Kurz war Sebastian Kurz, aber Armin Wolf war Martin Thür. Und Martin Thür war sogar sehr Martin Thür, stellenweise vielleicht sogar zu sehr Martin Thür. Aber wer konnte es ihm verübeln, wenn Kurz an diesem Abend wieder einmal sowas von Kurz war.

Die beiden saßen einander in Schlagdistanz gegenüber. Ich fragte mich, wer denn der Corona-Beauftragte der ZIB2 sei, denn das war sicher nicht der geforderte Mindestabstand. Aber wurscht, hier waren Cassius Clay und Joe Frazier im Ring, und wen interessiert da der Mindestabstand, geschweige denn der Mindestanstand.

Ziemlich ausgeglichen (also keiner blieb dem anderen etwas schuldig, ob mit oder ohne Rechnung) strebte die Götterdämmerung ihrem Höhepunkt entgegen, nämlich der Frage, ob Kurz glaube, Kanzler Kurz bleiben zu können. Die Antwort war selbstverständlich „Selbstverständlich!“

Warum ist das eigentlich so selbstverständlich? Nun ja, weil für Kurz und seine Entourage mittlerweile alles selbstverständlich geworden ist. Und wenn alles selbstverständlich ist, dann will man immer mehr und mehr und mehr. Die Trump-Spirale.

Das Kartenhaus des „Selbstverständlich-Kanzlers“ Kurz droht einzustürzen. Die vier Karten, auf denen es aufgebaut ist, wackeln zumindest gehörig. Karte 1: aus dem alten, klerikal verstaubten „Hände falten, Goschn halten“ ist ein kontrollzwänglerisches, aber bisher sehr effizientes „Auf eins, zwei, drei, reden alle den gleichen Brei“ geworden. Karte 2: wenn der Moment der Wahrheit gekommen ist: lügen, lügen, lügen. Karte 3: wenn der Moment des Erinnerns gekommen ist: vergessen, vergessen, vergessen. Karte 4: sollten wirklich die Stricke reißen, dann waren es die anderen. Es finden sich immer andere.

Totgesagte leben aber länger. Jetzt schon einen Nachruf auf Kurz anzustimmen wäre eine grob fahrlässige Unterschätzung des „Jetzt erst recht“-Potentials der ÖVP. Das einzige, was im Moment klar ist, ist, dass niemandem klar ist, wie es weitergeht.

Vielleicht wüssten wir alle mehr, wenn wir wüssten, wo die SPÖ ist. Haben Sie sie gesehen? Ich nicht. Obwohl ich pausenlos zwischen den Nachrichtensendungen herumzappe. Unlängst gab es einen „Runden Tisch“ über die Regierungskrise und einer der Teilnehmerinnen fiel etwa fünf Minuten vor Schluss auf, dass man eigentlich gar nicht über die SPÖ gesprochen hatte. Die anderen Teilnehmer: „Ah ja, stimmt“.

Will PRW einen „doppelten Olaf“ machen? Der „einfache Olaf“ ist, nichts zu reden. Der „doppelte Olaf“ ist, nichts zu reden und unsichtbar zu sein. Will sich PRW an der eigenen Partei rächen, die ihr – zugegebenermaßen – einiges angetan hat? Was ist aus der Frau geworden, die angetreten ist, die erste Bundeskanzlerin Österreichs zu werden? Hat sie jetzt keine Lust mehr auf die zweite Bundeskanzlerin? Will sie Vizekanzlerin unter einer wiedererschwarzten ÖVP werden und probt schon den vorauseilenden Gehorsam? Eine Frage schmerzhafter als die andere.

Aber eine Frage hätte ich schon noch: warum kann sich Pam, das 21-Prozent-Dornröschen, nicht ein Vorbild an Beate Meinl-Reisinger nehmen? BMR stellt sich mit ihren 8 Prozent wehrhaft vor und hinter die Justiz. Sie kämpft, mehr oder weniger allein, für eine Mitte, die von der ÖVP nach rechts und von der SPÖ nach irgendwohin verlassen wurde. Wenn Pam, wachgeküsst von wem auch immer, sich neben Beate hinstellen und mitkämpfen würde, dann könnte das der Anfang von etwas sein. Vielleicht sogar von etwas sehr Gutem.

Dann geht es also „nur mehr“ um die Grünen, die im Zentrum des Gemetzels stehen. Werden sie jetzt endlich das machen, wofür man sie gewählt hat? Werden sie sich endlich daran erinnern, dass sie Anstand in die Regierung bringen wollten? Werden sie endlich ihre Werte, die sie – ohne Not – in der türkisen Garderobe abgegeben haben, wieder abholen? Werden sie endlich draufkommen, dass sie schon die längste Zeit ein viel größerer Hebel sein können, als sie sich zugetraut haben? Werden sie die letzte mögliche Ausfahrt nehmen, um nicht wieder dort zu landen, wo sie schon einmal waren: in der außerparlamentarischen Bedeutungslosigkeit?

Ein Gemetzel ohne Kickl ist wie ein Gulasch ohne Saft. Keine Angst, ich habe gerade deshalb nicht Herbert Kickl vergessen. Ich habe auch deshalb nicht Herbert Kickl vergessen, weil mich Elisabeth Köstinger an ihn erinnert hat. Sie hat mir angedroht, dass ich an irgendeinem nächsten Morgen neben ihm im Bett aufwachen würde. Ich weiß nicht, wie sie da draufkommt, aber ich will es ihr nachsehen, weil ihre Nerven blank liegen und sie plötzlich nichts mehr für selbstverständlich hält.

Aber was weiß ich schon? Meint

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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