Juhu, ich werde Politiker

10 Dinge, die man aus dem Superwahlsonntag lernen kann

Harry Bergmann
am 27.09.2021

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Aufgeschlüsselt: Der Superwahlsonntag | Foto: Harry Bergmann

Wenn ich meine Augen unmutig rollte oder nicht aufhören konnte, auf meine Nasenspitze zu schielen, drohte mir meine Mutter immer, sie würden steckenbleiben. Sie hätte mich lieber davor warnen sollen, dass Augen – im Format 16:9 – rechteckig werden und bleiben können, wenn man sich stundenlang Wahlsendungen hineinzieht.

Es war einiges los am Sonntag: Deutschland, Oberösterreich, Graz, Berlin und nicht zu vergessen: Mecklenburg-Vorpommern. Von Letzterem weiß ich nie, wo es genau liegt, aber ich kann einfach nicht aufhören den Namen vor mich hin zu brabbeln: „Mecklenburg-Vorpommern, Mecklenburg-Vorpommern, …“ Eine Art Deutschland-geographisches Tourette-Syndrom.

Ich habe in diesen Stunden, die ich in illustrer Gesellschaft von Scholz, Laschet, Söder, Baerbock, Stelzer, dem einen traurigen Auge von Haimbuchner, Nagl – von dem ich mich nicht einmal richtig verabschieden konnte – und vor allem von Elke Kahr verbracht habe, viel gelernt. Auch über das Lernen selbst habe ich viel gelernt. Es ist die ständige Wiederholung, die Sätze zu Merksätzen werden lässt. Es ist die ständige Wiederholung, die Aufmerksamkeit aufbaut, einen dann in eine erschöpfte, schwindsucht-artige Ohnmacht fallen lässt, um schließlich in einem hypnotischen Aufnahmezustand „Ich lasse alles – auf ewig – in mein Unterbewusstsein sinken“ zu enden. Es ist die ständige Wiederholung, die aus einem krachenden Verlierer einen zweiten Sieger macht. Es ist die ständige Wiederholung, die den Wiederholer selbst glauben lässt, der Schwachsinn, den er verzapft, sei eine großartige Erkenntnis. Es ist die ständige Wiederholung, die Dich glauben lässt, Jamaika sei ein deutsches Bundesland. Es ist die ständige Wiederholung, die aus einst vernünftigen und mündigen Wählern Anhänger von Obskuranten aller Art macht.

Ich habe so viel gelernt, dass einer erfolgreichen Politiker-Karriere, zu der ich mich nach vorsichtiger Abwägung aller Vor- und Nachteile entschlossen habe, eigentlich nichts mehr im Weg stehen sollte. Hier mein 10-Punkte-Programm:

1. Nimm den Mund voll, aber nicht zu voll. Wenn Du Dir in diesem Punkt nicht ganz sicher bist, dann frage nochmal bei Annalena Baerbock oder Markus Söder nach.

2. Wenn Du in der Sonntagsfrage nur halb so viel Prozent wie Deine Gegnerin oder Dein Gegner hast, dann mach Dir nichts draus. In nur fünf Monaten kann es genau umgekehrt sein. Es sollte halt wieder ein Sonntag sein.

3. Wenn Du in der Sonntagsfrage doppelt so viel Prozent hast, wie Deine Gegnerin oder Dein Gegner, dann sei auf der Hut. Hast Du bei der Mathe-Schularbeit abgeschrieben, dann mache lieber eine Selbstanzeige und strebe nur das Amt des Finanzministers an. Hast Du bei der Deutsch-Schularbeit abgeschrieben, bleibt Dir immer noch das Migrations-Ministerium.

4. Sei nett zu Deinen Wettbewerberinnen. Mach Ihnen Platz, Platz zum Stolpern. Je größer der Sturzraum, desto wilder die Brezn. Wenn Du dabei noch ein Gesicht wie Olaf Scholz machen kannst, dann ist Dir der Sieg nicht mehr zu nehmen.

5. Denke immer an das „Schmied-Schmiedl“-Umkehr-Phänomen. Es klingt nicht nur kompliziert, es ist es auch. Hier ein – hoffentlich – anschauliches Beispiel: Du machst alle Impfgegner zu Deinen Freunden und sie glauben Dir alle Lügen, die Du diesbezüglich erzählst. Du bist der strahlende Schmied Deines Glücks und rechnest fix mit ihrer Stimme und übersiehst, dass Dich irgendein unbekannter, polit-esoterischer Schmiedl rechts – oder sogar links – überholt und Dir Landtagssitze unterm Hintern wegzieht.

6. Wenn es doch passiert, dann weine nicht vor laufender Kamera! Und wenn ja, dann nur mit einem Auge. Mit dem anderen zwinkere Deiner Klientel zu, denn es bleiben immer noch so viele andere Lügen.

7. Gib Fehler zu. Das ist so überraschend, dass Dir plötzlich die Bühne ganz allein gehört. Zumindest lange genug, damit Du Dich – angezählt – wieder aufrappeln kannst. Wenn Du es einfach nicht über die Lippen bringst, dann sage: „Wir haben Fehler gemacht“ und schau dabei den an, den Du vor den fahrenden Zug werfen willst.

8. Lass deine Wähler immer in dem Glauben, dass es auf ihre Stimme bei der Wahl ankommt und es Dir nur um die Koalition mit Ihnen geht. Sag immer: „Zuerst hat der Wähler das Wort.“ Denke immer: „Was muss ich den Halunken von der anderen Partei anbieten, dass ich sicher Kanzler werde.“ Koalitionsverhandlungen nach der Wahl sind sowas von gestern.

9. Wenn Du manchmal – wenn Du sicher bist, ganz allein zu sein – die „Internationale“ unter der Dusche singst, heißt das noch lange nicht, dass Du nicht für ein hohes, öffentliches Amt prädestiniert bist. Alles, was Du machen musst ist, hie und da die Dusche zu verlassen, Dich abzutrocknen, etwas anzuziehen und raus zu gehen. Raus in die Betriebe, wie das früher hieß. Dann hörst Du einfach zu. Hörst Dir an, was die Leute wirklich beschäftigt, wo der Schuh drückt, wo sie nicht die Gerechtigkeit bekommen, die ihnen zusteht, wovor sie sich fürchten, was sie nicht verstehen, aber gern verstehen würden wollen. Aber Achtung: das musst Du über viele Jahre tun und es endet in Arbeit. Arbeit, die nicht unbedingt gleich den Erfolg bringt, den Du Dir erhoffst. Und einige werden Dir auf der Straße „Kummerl“ nachrufen und es wird schmerzen, dass man Dich mit denen gleichsetzt, die den Prager Frühling niedergeschlagen, die Krim annektiert oder Dissidenten vergiftet haben. Und Du wirst weiterarbeiten und versuchen, Leuten zu helfen und eines Tages, weil Du gerade den Nagl auf den Kopf getroffen hast, wirst Du eine Wahl gewinnen. Oder auch nicht.

10. Wenn Du am Wahlabend – als Sieger oder Verlierer – Interviews gibst, dann mach aus einer Niederlage keinen Sieg und bedenke als Sieger, dass Du jetzt auch liefern musst.

Ja, das habe ich alles am Sonntag vor dem Fernseher gelernt. Ob es aber auch die im Fernseher gelernt haben, bezweifelt

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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