Der Fetzenschädel

Über die Schönheit des Moments, wenn jemand sagt, was er oder sie wirklich denkt.

Harry Bergmann
am 12.09.2021

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Wie nennt man jemanden, der sich für ein Kreuzerl am Wahlzettel an Impfgegner anbiedert? Foto: APA/ Barbara Gindl

Es gibt Worte, die fallen einem plötzlich ein, und man kriegt sie nicht mehr aus dem Schädel. Worte aus der eigenen schulischen Vergangenheit, oder aus einem Gehirnarchiv, auf dem steht „Bitte nur im Ernstfall anwenden!“ oder „Achtung! Tiefer Dialekt.“ Es sind Worte, die nicht unbedingt gesellschaftsfähig sind, aber einen dennoch schmunzeln lassen. „Fetzenschädel“ ist so ein Wort.

Ich kann jetzt leider nicht mit Bestimmtheit sagen, warum mir „Fetzenschädel“ eingefallen ist, glaube aber, dass es in keinem Zusammenhang mit der Vorstellung der neuen Corona-Regeln gestanden ist. Hätte sich ja auch nicht ausgezahlt. Die waren schon wenige Stunden nach der Präsentation Makulatur, also wertlose, bedruckte Papierfetzen, die – so sagt man – jetzt nachgeschärft werden müssen. Vielleicht hat es etwas mit den FFP2-Fetzen zu tun, die man als Ungeimpfter im Geschäft am Schädel tragen muss. Aber das kann es eigentlich auch nicht gewesen sein, weil man eh nicht jede oder jeden kontrollieren kann, ob sie oder er geimpft ist oder nicht und sich niemand findet, der das stichprobenartig machen will.

Verständlich, da müsste man schon ein ausgemachter Fetzenschädel sein, um sich dafür herzugeben. Und zeigen Sie mir einen Fetzenschädel, der sich selbst für einen Fetzenschädel hält.

Ich habe mein Gehirn durchstöbert, wo und wie dieses wunderbare Wort vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein hinaufgespült wurde. Aber ich fand die undichte Stelle einfach nicht. Bis ich es las. Bis ich das Wort las, das wohl der Trigger für das gesuchte Wort war, ja sein musste: fetzendeppert.

„Fetzendeppert“ muss einem zuerst einmal einfallen. Und wenn es einem einfällt, muss man auch noch den Mut haben, es auszusprechen. Das gilt natürlich nicht für jeden. Ich, zum Beispiel, bräuchte keinen Mut, es auszusprechen, denn bei mir ist es ziemlich wurscht, was ich ausspreche oder nicht ausspreche, also nicht völlig wurscht, aber eben ziemlich wurscht.

Aber wenn das eine wichtige Person, also eine Person, die in der Öffentlichkeit steht und die man „höhergestellte Person“ nennt, wenn das so eine Person sagt, dann ist das schon nicht mehr so wurscht. Wenn ein Politiker, ein rauer, ungehobelter Klotz, der genauso gut „widerliches Luder“ sagen könnte, also wenn so einer „fetzendeppert“ sagt, dann wäre das schon bemerkenswert, aber eben nur bemerkenswert, wenn es aber eine Politikerin sagt, die noch dazu eine Parteichefin ist und es über eine andere Partei sagt und diese Partei ist die FPÖ und es ist vor einer Landtagswahl und es geht gegen die fetzendepperte Anbiederung an die Impfgegner, weil ja ein Kreuzerl auf dem Wahlzettel ein Kreuzerl auf dem Wahlzettel ist, dann, ja dann, ist das nicht nur bemerkenswert, sondern merkenswert und sie hat sich ein lautes „Brava!“ verdient. Ob man das nun stehend oder sitzend ruft, hängt vom Grad der Begeisterung ab.

Natürlich wird es ebenso viele, wenn nicht sogar mehr, geben, die das absolut nicht bravourös finden. Ich höre schon das „dz dz dz“ der Polit- und Politur-Experten, die von einer autoaggressiven, selbstbeschädigenden und parteischädlichen Äußerung sprechen. Die erklären, dass gerade vor einer Wahl sich jedes ausgesprochene Wort an ein ganz spezifisches Zielgruppensegment mit kreuztabulierter Demographieausprägung zu richten hat, dass die Goldwaage das Maß aller Dinge sei, nein die Silberwaage, denn Reden ist Silber und nur Schweigen ist Gold, dass man ständig die Wählerstromanalyse der letzten Wahl im Kopf haben und auf der Zunge tragen muss, dass man den Flügelschlag des eigenen Parteiflügels auf beiden Seiten des Spektrums erfühlen, am besten gleich antizipieren sollte, und dass man schließlich die Headlines des morgigen Boulevards schon visualisieren sollte, bevor die jeweilige Druckpresse zum Halten kommt.

Ja, das oder so etwas Ähnliches sagen sie, die Experten. Im vollen Bewusstsein, dass es keine allzu große Rolle spielt, was ich sage, sage ich: „Endlich ist da jemand, die sagt, was sie sich denkt, und nicht das, was sich ein anderer ausgedacht hat, und das sie dann mehr schlecht als recht auswendig herunterbetet, wie so mancher Minister oder manche Ministerin, die im schlimmsten Fall, was auch schon vorgekommen sein soll, die Textbausteine verwechselt haben.“

In Deutschland verlässt gerade eine große Politikerin die Bühne, die immer gesagt hat, was sie sich gedacht hat, immer gesagt hat, was sie für richtig gehalten hat. Und ja, es hat sich oft als falsch herausgestellt, aber eines war immer richtig: die Haltung.

Politikerinnen und Politiker sind keine seelenlosen, message-kontrollierten Sprechautomaten und wenn sie es dennoch sind, dann sollten sie schleunigst durch Menschen ersetzt werden. Von einem etwas glücklosen, sehr oft arrogant dozierenden, Kurz-Bundeskanzler habe ich mir vor allem ein Wort gemerkt: „Vollholler“. Von einem anderen glücklosen Bundeskanzler – mir fällt gerade auf, dass dieses Land eine Reihe von glücklosen Bundeskanzlern hatte – habe ich mir gemerkt, was er sagte, als ihm sein Gegenüber bei einer Fernsehdiskussion wieder einmal eine Tafel unter die Nase hielt: „Aha, Maria Taferl“.

In der politischen Kommunikation, wie in der Kommunikation überhaupt, kommt es darauf an, was hängen bleibt. Und vielleicht hat die Parteichefin auf die aktuellen Zahlen geschaut und sich gedacht: „Es wird eng mit dem Einzug in den Landtag. Schluss mit dem Herumlavieren, ich sag jetzt, was endlich gesagt werden muss.“

Ich weiß  nicht, ob ich Ihnen schon einmal erzählt habe, dass ich eine Zeit lang in einer großen Werbeagentur mitarbeiten durfte. Wenn ich in dieser Zeit die Kampagne einer anderen Agentur gesehen habe und mich ärgerte, dass ich nicht auch so eine tolle Idee gehabt habe, dann war das gewissermaßen die höchste Auszeichnung, die ich persönlich zu vergeben hatte.

Liebe Frau Parteichefin, ich hätte liebend gern die Idee mit „fetzendeppert“ gehabt und verbeuge mich,

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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