Alles hat seine Grenzen

Mit gewonnen Wahlen kann man neue Schlagbäume errichten

Harry Bergmann
am 03.09.2021

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APA/HANS PUNZ

Eine Grenze hat immer etwas Eingrenzendes. Und wo Eingrenzendes, da auch Ausgrenzendes. Der Grenzwächter ist also eigentlich Ausgrenzwächter. Wäre er Fährmann, würde er eiskalt, bedauernd sagen: „Das Boot ist voll!“ Aber er ist kein Fährmann. Er ist Wächter und wacht darüber, dass nichts über die Grenze kommt, was nicht über die Grenze kommen soll, was nicht über die Grenze kommen darf. Er ist dabei sein eigener Richter, der sagt, was darf und was nicht darf. So blicken alle gebannt auf seinen Daumen, ob dieser nach oben oder nach unten weist. Deshalb – ja, ich glaube deshalb – hatten und haben Grenzen für mich immer etwas Beklemmendes, etwas Furchteinflößendes oder zumindest Ehrfurchteinflößendes.

Auf der einen Seite der Grenze ist immer etwas anders als auf der anderen Seite. Vielleicht war es vorher gar nicht anders, aber jetzt – wo die Grenze da ist – ist es anders. Die Grenze hat der Mensch dahingetan. Mit Absicht. Oft in böser, seltener in guter. Gott hat die Grenze nicht gesetzt. Der Mensch, in Gottes Namen, schon eher. Nicht das beschwichtigende, einlenkende „Na gut, in Gottes Namen“. Nein, das brüllende, martialische „Im Namen Gottes!“

Die schrecklichste aller Grenzen ist die zwischen Leben und Tod. Nicht die, über die wir eines Tages alle gehen werden, sondern die, wo auf der einen Seite Krieg, Terror, Verfolgung, Willkür, Angst um das nackte Leben herrscht und auf der anderen Seite nicht das Paradies, aber immerhin Rettung, Sicherheit und Zuflucht. Ein Platz zum Durchatmen, sei es auch um den Preis in ein Lager mit vielen anderen Durchatmern eingepfercht zu werden. Für wie lange Durchatmen auch immer. Das ist der Tribut, den die strengen Grenzwächter einheben, egal ob dabei andere Grenzen, nämlich die der Menschlichkeit, überschritten werden. Todesangst gegen Hoffnungslosigkeit, was für ein Tauschhandel.

Viel zu viel ist über diese Grenzen schon geredet und viel zu wenig dagegen gemacht worden. Im Gegenteil. Mit dem Reden über immer neue Grenzen schürt man Ängste und mit den Ängsten gewinnt man Wahlen. Mit gewonnen Wahlen kann man neue Schlagbäume errichten. Und langsam – gar nicht einmal so langsam – finden wir uns alle auf der einen oder der anderen Seite irgendeines Schlagbaums wieder, der irgendwas von irgendwas und irgendwen von irgendwem trennt. Der Grenzverlauf durch das, was wir so gerne „offene Gesellschaft“ nennen, mag – je nach Thema – immer ein anderer sein, das Auseinanderdividierende, das Uns-Gegeneinander-Ausspielende bleibt. Divide et impera.

Immer wieder kommen neue Grenzen hinzu, wie die, über die hier gleich die Rede sein wird. Vor weniger als einem Jahr wurde begonnen, die Grenzlinie zu ziehen und seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über Anfeindungen im Grenzgebiet berichtet werden muss. Was die Menschen hüben und drüben unterscheidet und schlussendlich mehr und mehr gegeneinander aufbringt ist so klein, dass es mit freiem Auge kaum wahrnehmbar ist. Tatsächlich ist der Unterschied nicht größer als die Einstichstelle einer Injektionsnadel. Die einen haben diese Einstichstelle, die anderen eben nicht. Die einen sind gegen Covid geimpft, die anderen eben nicht. Die Geimpften fühlen sich von den Ungeimpften bedroht. Die Ungeimpften fühlen sich von der Pharmaindustrie bedroht.

Kein Argument, das nicht ins Gegenteil verkehrt werden kann. Keine Statistik der einen Seite, von der die andere Seite nicht weiß, dass sie des Teufels ist. Keine Theorie, die sich nicht gegen eine andere Theorie verschwört.

Die Geimpften hängen an den Lippen des Naturwissenschaftlers ihres Vertrauens. Die Impfgegner hängen, zum Teil zumindest, an den Lippen von Verschwörungstheoretikern. Ja, ich gebe es zu, ich habe mich schon seit Langem für die Seite der Geimpften entschieden.

Beide Seiten rufen die Demokratie als ihren Zeugen auf. „Solidarität!“ rufen die einen, „Ohne solidarisches Handeln keine Demokratie!“ – „Und was ist mit meinen Freiheitsrechten?“ schallt es zurück. Missionare hier, Missionare dort. Eiferer hier, Eiferer dort. Der Impf-Dschihad wird derart erbittert geführt, dass der Gedanke naheliegt, dass es nicht nur um die Impfung geht. Aber was ist es dann? Ein Ersatzkrieg? Ersatz wofür?

Der Ungeist der Spaltung geht um. So hat das Virus doch tatsächlich etwas erreicht, das es am Anfang vielleicht gar nicht zu träumen wagte, sofern ein Virus überhaupt zu träumen wagt. Es sind nämlich nicht nur Millionen Menschen daran erkrankt, sondern die Gesellschaft an sich. Eine Gesellschaft, deren Immunsystem ohnehin schon im Argen liegt.

Und die Politik? Sie politisiert, polemisiert und polarisiert. Die Politik hätte es in der Hand. Sie müsste von den 3G einfach 2G weglassen und eine Impfpflicht ausrufen. Die Demokratie würde es überleben und mit ihr eine große Zahl derer, die man zu ihrem Impfglück hat zwingen müssen. Politik verfolgt aber ihre eigene Logik und diese Logik sagt: „Vor der nächsten Wahl werden wir einen Teufel tun. Wir brauchen jede Stimme und das Kreuzerl eines Impfgegners ist uns genauso recht wie das jedes und jeder anderen.“

Zum Abschluss noch die schlechte Nachricht für alle, die hoffen, dass dieser Pandemie-Wahnsinn so schnell wie möglich zu Ende geht: die nächste Wahl lauert hinter der nächsten Ecke. Immer.

Ich wünsche allen, die es betrifft Shana tova und allen anderen, dass sie gesund durch die vierte Welle kommen.

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.


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