Mit Ach und Krach

Hätte sich die Weltgemeinschaft in der Afghanistanfrage nur von Nehammer und Kurz beraten lassen: Ach, wie einfach alles wäre!

Harry Bergmann
am 24.08.2021

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Foto: APA/BKA/FLORIAN SCHROETTER

„Ach!“ empfinde ich als einen durchaus passenden Beginn für eine Kolumne, die sich mit dem derzeitigen Zustand der Welt beschäftigt. Vielleicht sogar den einzig passenden Beginn. Denn es geht – wie Sie, verehrte Leserin und verehrter Leser meiner allwöchentlichen Schreibübung, besser wissen als ich – nicht nur um das Faktenbasierte, sondern natürlich immer auch um das ach so Emotionsbasierte.

Wenn ich „Ach!“ sage, dann meine ich natürlich das seufzende, enttäuschte, problembeladene, schmerzhafte „Ach!“. Nicht das arrogante, ungeduldige, alle anderen Argumente wegwischende „Ach, was kümmert mich das alles.“

Das weh-tuende „Ach!“ passt in die kleine Welt der österreichischen Politik ebenso wie in die große Welt, die wirkliche Welt. Diese große Welt, die irgendwann und irgendwie auch in unserer kleinen Welt ankommt. Wie der Schrecken aus Afghanistan. Ach, wie schnell wird dann aus der kleinen Welt eine kleinliche Welt, aus der räumlichen Enge eine Engstirnigkeit.

„Ach!“ würde eigentlich eh schon alles sagen, aber man kann es natürlich noch ergänzen und präzisieren. „Ach, wie geht mir Ihr Abschiebe-Geschwätz auf den Geist, Herr Innenminister!“ oder „Ach, wie peinlich muss das im fernen Kabul klingen, wenn Sie, Herr Außenminister, die Taliban ultimativ an den Verhandlungstisch zurückbeordern“ oder „Ach, wie berechenbar sind Sie doch, Herr Bundeskanzler, wenn Sie immer und immer wieder die hartherzige Karte ausspielen, um Ihrem Bubengesicht den Anflug von Erwachsensein zu verleihen.“

Sie sehen schon: dort wo die große Welt und die kleine Welt zusammenstoßen, dort wo sich die Weltpolitik mit der Nationalpolitik (!) beginnen zu reiben, dort entsteht Hitze und dort erhitzen sich dann eben die Gemüter.

Je stärker man in einem Thema persönlich involviert ist, desto „Ach!“. Daher bewege ich mich kolumnistisch meistens in der mir nahen – muss aber nicht heißen: vertrauten – kleinen Welt. In jener Welt, wo der auch nicht mehr so neue Gesundheitsminister von einer G-Regel zur anderen hin- und hertaumelt, wie eine unkontrollierbare Flipperkugel. (Ach, könnte ich nur den kleinsten Unterschied zwischen dem verstoßenen Herrn Anschober und dem turnbeschuhten Herrn Mückstein ausmachen.) Zur Not könnte mir auch das 1,2,3-Ticket von Frau Gewessler ein „Ach!“ entlocken. Aber über Afghanistan weiß ich einfach zu wenig oder halt nur das, was mir die Weißmann-Nachrichten, die noch gar keine Weißmann-Nachrichten sind, weißmachen wollen.

Also habe ich bei Thomas Friedman in der New York Times nachgelesen. Ach – diesmal ist es das hingebungsvolle „Ach!“ – ach, wie liebe ich seine Texte. In einer seiner jüngsten Kolumnen „Three People I Would Interview About Afghanistan“ führt er imaginäre Interviews. Eines mit dem früheren – längst verstorbenen – König von Afghanistan, Mohammed Zahir Schah, der einem das Geflecht von 14 (!) ethnischen Gruppen erklärt, in dem die Taliban nur ein ganz kleiner Mosaikstein sind. Und schon versteht man etwas mehr über das wichtigste Gesetz des Zusammenlebens in diesem Teil der Erde. „Ich und mein Bruder gegen meinen Cousin. Ich und mein Bruder und mein Cousin gegen den Fremden.“ Hat man das einmal verstanden, machen auch die Worte von US-Präsident Joe Biden etwas mehr Sinn: „How many more generations of America’s daughters and sons would you have me send to fight Afghanistan’s civil war when Afghan troops will not?“

Was man trotz aller Begeisterung über Friedmans Kolumne nicht versteht und wohl nie verstehen wird, ist, wie man ein Land nach 20 Jahren, tausenden Toten und Aber-Milliarden von Dollars durch einen kopflosen Abzug ins totale Chaos stürzen kann.

An dieser Stelle kommt wieder unsere kleine Welt ins Spiel. Der Hindukusch mag sehr gebirgig sein, aber die ungetrübte Weitsicht und der Gipfel der Erkenntnis liegt nun mal zwischen Bodensee und Neusiedlersee.

Joe Biden hätte sich die afghanische Situation unbedingt aus der Perspektive von Charly Nehammer und Seb Kurz ansehen sollen. Ein kurzes Telefonat oder auch nur ein bisschen Zeit, um sich die vielen informativen Sommergespräche im österreichischen Fernsehen anzusehen, wären gut investiert gewesen.

Biden wusste zum Zeitpunkt des Abzugs der amerikanischen Truppen offensichtlich nichts von Charly Nehammers Absichten, den zivilen Widerstand gegen die Taliban mit eiligst heimgeschickten Afghanen, die vom Innenminister höchstpersönlich in Österreich rekrutiert worden wären, zu stärken. Vielleicht wäre vieles anders gelaufen. Ziemlich sicher sogar.

Ach, warum hat sich niemand gefunden, die oder der dem guten, alten, sleepy Joe ein Vieraugengespräch mit unserem jungen Kanzler ans Herz gelegt hat? Der Kanzler, dem immer mehr Staatsoberhäupter in aller Welt vertrauen. Kurz hätte den nervlich angeschlagenen und von Selbstvorwürfen geschwächten Biden trösten können, indem er ihm genau das erklärt hätte, was er dem Publikum von Puls24 erklärt hat, dass nämlich Bürgerkriege in Afghanistan „eine lange Geschichte und Tradition haben.“

Kein Wenn ohne Aber, kein Ach ohne Weh … Sebastian hätte natürlich auch ein wenig streng mit dem Kollegen aus dem Weißen Haus sein müssen. Er hätte keinen Zweifel daran gelassen, dass er – bis auf Weiteres – nichts mehr für Biden tun kann, denn Österreich „hat schon überproportional viel getan“. Eine Situation wie 2015 wird es unter seiner Kanzlerschaft jedenfalls nicht mehr geben und die einzige Welle, die er zulässt, ist die 4. Corona-Welle, aber sicher keine weitere Flüchtlingswelle. Er wird sich ja nicht von Kickl die innenpolitische Butter vom Brot nehmen lassen.

Bleibt nur eine Frage: wer sagt unseren politischen Lichtgestalten, dass sie keine Angst vor weiteren Flüchtlingsströmen zu schüren brauchen, wenn in Afghanistan sogar das US-Botschaftspersonal nur mit Ach und Krach aus dem Land herauskommt.

„Ach!“ Sie sehen, ich habe es wieder nicht verstanden. Es geht in unserer kleinen Welt den Regierenden gar nicht um die Flüchtlinge, sondern nur um die nächste Wahl, und da schaut es ja wieder super aus.

Zerknirscht,

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.


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