Verstehen Sie Peter Handke?

Einen Elfmeter kann man nicht weg-schreddern, weg-filibustern oder wie einen Laptop im Kinderwagen spazieren führen. Nur was lernen wir daraus?

Harry Bergmann
am 08.07.2021

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Unschredderbar: Der Elfmeter | Illustration: Shutterstock

Ich verstehe Peter Handke nicht. Das meine ich weder politisch, noch literarisch und schon gar nicht literaturkritisch. Letzteres stünde mir weder in diesem noch in meinem nächsten Leben zu. Was bin ich schon im Vergleich zu einem Literaturnobelpreis?

Ich verstehe Peter Handke nicht, wenn er schreibt „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“.

Nun, er hat das schon vor fünfzig Jahren geschrieben und vielleicht war das damals so. Vielleicht hatte der Tormann damals tatsächlich Angst vor einem Elfmeter. Oder es ging nur um diesen Josef Bloch, über den Handke da schrieb. Der war zwar Tormann, aber eher ein unbekannter. Ich habe in den letzten Tagen bei vielen Elfmetern mitgezittert und viel über Tormannlegenden, sogenannte „Penalty Killer“, erfahren. Der Name Bloch ist mir dabei nicht untergekommen. Aber bitte, vielleicht ist er in der Zwischenzeit verhaftet worden. Er war ja – laut Handke – nebenberuflich ein Mörder. Oder er saß nur auf der Ersatzbank. Dann verstehe ich allerdings die Sache mit der Angst vor dem Elfer noch weniger.

Peter Handke wird sich einfach geirrt haben und spätestens jetzt bei der EURO 2021 ärgern, dass er es jemals so gesehen hat. Ein Nobelpreis sagt ja nicht, dass alles richtig war, was man in der Vergangenheit geschrieben hat, oder?

Wobei die Situation eines Elfmeters schon etwas Furchteinflößendes hat. Da hat er schon recht, der Handke. Es ist dieses Absolute, das die meisten von uns – ein Leben lang – zu vermeiden versuchen. Es ist ja oder nein. Es ist schwarz oder weiß. Es ist ein Tor oder kein Tor. Wenn der Ball an die Stange geht, kann man nicht sagen „Es war fast ein Tor.“ Es war eben kein Tor. Wenn der Ball an die Stange geht, von dort auf die andere Stange, von dort auf den Kopf des Tormanns, von dort auf die Querlatte, von dort auf seinen Rücken und von dort hinein, dann war es – Wunder hin oder her – ein Tor.

Da kann man nicht in irgendwelchen Graubereichen herumlavieren. Da kann man nicht verhandeln. Da kann man nichts abtauschen. Da kann man nicht chatten „Du bekommst eh alles, was Du willst“. Da kann man nicht – ausgerechnet, wenn der Schütze anläuft – herumwinseln, dass Gräben zugeschüttet werden sollten. Da kann man nichts unter den Rasen kehren. Da kann man nichts wegschreddern. Da kann man nicht seinen Laptop in der Gegend herumspazieren lassen und hoffen, dass plötzlich alles wieder gut ist, wenn man nach dem Elferschießen wieder nachhause kommt. Da kann man sich weder entschlagen, noch solange filibustern, bis den Anderen die Lust vergeht. Da kann man sich nicht beim anderen einschleimen und erklären, dass man ihn liebt. Da kann man die Schuld nicht hin- und herschieben und am Ende sind alle schuld, nur man selbst nicht. Da kann man niemanden vorwarnen, nur weil er die gleiche Trikotfarbe trägt, wie man selbst. Da macht es auch keinen Unterschied, ob keiner, oder einer oder beide einen Migrationshintergrund haben. Da kann man nicht die ganze Welt für blöd verkaufen, indem man vor dem Elfer eine Pressekonferenz abhält, um zu erklären, was ohnehin eh schon alle wissen, dass es nämlich entweder ein Tor wird oder eben nicht.

Da kann man auch nicht minutenlang taktieren, sonst geht es wie bei Papier, Schere, Stein. „Er denkt, ich mache jetzt Stein, also macht er Papier und ich mache dann eben Schere. Er weiß das aber, also macht er Stein gegen meine Schere und deshalb mache ich jetzt Papier.“ So kann man weder einen Elfer schießen noch einen halten.

Wir sind für das Absolute nicht gebaut. Oder wir haben es verlernt oder verdrängt oder wenden es, aus Pragmatismus, kaum mehr an. Wir sind zwar mit dem Absoluten geboren worden, aber je älter wir werden, desto mehr glauben wir, die Bequemlichkeit des Relativen genießen zu dürfen. Warum muss denn auch alles, was wir richtig oder falsch machen, sofort Konsequenzen haben? Unser Leben ist zwar kein Ponyhof, aber ein ständiges Elfmeterschießen auf Hopp oder Tropp muss es ja auch nicht gerade sein.

Vielleicht tun wir uns auch deshalb mit Corona so schwer. Das kann man auch nichts ausdiskutieren oder wegdiskutieren oder wegdemonstrieren. Man ist entweder negativ oder positiv. Nicht wahr, Herr Hafenecker!

Das mag zwar alles stimmen oder auch nicht, aber Handke liegt dennoch falsch. Der Tormann braucht keine Angst vor dem Elfmeter zu haben. Im normalen Spiel – nennen wir es im normalen Leben – bedeutet ein schwerer Fehler von ihm den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage. Das macht seinen Job schon um vieles schwieriger, als die meisten unserer Jobs. Aber beim Elfmeter hat er nichts zu verlieren. Niemand kann erwarten, dass er einen Elfer hält. Und hält er dennoch, dann ist er der große Held und der unglückliche Schütze stürzt sich, seine Mannschaft, die anwesenden Fans und eine ganze Nation in ein tiefes Jammertal.

Die Angst liegt also beim Schützen. Ist aber eigentlich auch egal. Denn was, zum Teufel, sollen wir daraus wieder lernen?

Vielleicht hat sich das Handke auch gedacht.

Denkt zumindest,

Ihr Harry Bergmann

Übrigens: der Elfmeterpunkt ist nicht genau 11 Meter von der Torlinie entfernt, sondern 10,97 Meter. Es sind nämlich 12 Yards. Dieses Wissen ist natürlich schon ein kleiner Vorteil für die englische Nationalmannschaft im Finale und für Sie gegenüber Ihren ahnungslosen Freunden.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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