Das falsche Gewicht

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Er saß mir gegenüber. Nicht am gleichen Tisch, sondern über den Gang. Als er sah, dass ich mich zum Gehen bereit machte, stand er ebenfalls auf und so begrüßten wir einander stehend, wie zwei Menschen, die sich vom Sehen gut kennen, aber sonst eigentlich gar nicht.

Wir gingen ein kurzes Stück des Wegs – nicht im Kreisky’schen Sinne, sondern weil mein Fahrrad neben seinem Auto geparkt war – gemeinsam.

„Schreiben Sie noch im Falter?“ Sollte ich ihm jetzt erklären, dass ich nicht „im“ Falter schreibe, sondern „auf“ der Online-Plattform des Falters? Also sagte ich vorsichtig abwartend „Ja“. Vorsichtig, weil der Über-den-Gang-Gegenüber-Sitzer-und-zur-gleichen-Zeit-Aufsteher ein ÖVP-Mandatar war. Ich nehme an, ein Türkiser und kein Schwarzer. Was in absehbarer Zukunft einen ziemlichen Unterschied machen könnte. Abwartend, weil ich fix damit rechnete, dass er gleich vom Leder ziehen würde. Über den Falter im Allgemeinen und über meine Anti-Regierungs- und Antiantisemitismuskolumne (die er überraschenderweise kannte) im Besonderen.Nichts dergleichen.

„Es ist wieder wie 1936“ sinnierte er vor sich hin. Die Ernsthaftigkeit dieser Worte war schon allein durch die Jahreszahl hergestellt.

Ich wüsste gern, was Sie bei diesem Satz gedacht hätten, ich dachte jedenfalls, es ginge um den in den letzten Monaten aus allen Kanallöchern aufsteigenden Gestank des Antisemitismus.

Als er weitersprach, wusste ich, wie falsch ich damit lag. „Dieses Denunziantentum ist unerträglich geworden. Diese Blockwart-Mentalität, wo nichts Privates privat bleibt.“

„Aha, schon wieder das türkise Gejaier über die Veröffentlichung der privaten Chats der absolut nicht privaten Chatter“, ärgerte ich mich.

Blockwart? Der direkte Vergleich mit Leuten, die Juden, die im gleichen Block wohnten, an die Gestapo verraten und damit in den sicheren Tod geschickt haben, hätte eigentlich reichen sollen. Das Gespräch auf der Stelle zu beenden wäre die einzig richtige Reaktion gewesen. Aber ich tat es nicht.

Im Gegenteil. Ich versuchte das Thema in einen seichteren Teil dieser politischen Untiefe, in die ich da geraten war, zu ziehen: „Nur damit ich Sie verstehe: wenn man alle Chats in einen Sack stopft und in einen anderen Sack alle Veröffentlichungen dieser Chats und beide auf die Waage legt, dann meinen Sie also, dass die Veröffentlichungen schwerer wiegen, als die Chats selbst, richtig?“

Er stutzte. Ich hoffte, aus Verlegenheit. Da ich aber die Farbe Türkis mit der menschlichen Regung der Verlegenheit nicht zur Deckung bringen konnte, setzte ich nach: „Die Inhalte der Chats, zumindest die, die ans Tageslicht gebracht wurden, waren aber nicht privat, denn sie drehten sich um die Öffentlichkeit. Wie man sie informiert, wie man sie desinformiert, wie man sie manipuliert, wie man sie geringschätzt, wie man sie verspottet, wie man sie entwürdigt und wie man sie nach allen Regeln der Kunst ausnimmt. Sie drehten sich um uns. Uns, die wir mit unseren Stimmen, diese Kerle und Kerlinnen überhaupt dorthin gesetzt haben, wo sie sitzen. Im Parlament oder gar auf der Regierungsbank.“

Der Parlamentarier bog im rechten Winkel ab. Pfutsch war er.

Wir leben in einem System, in dem die Gewichte – vor unser aller Augen – verschoben wurden und werden. Zuerst unmerklich, mittlerweile aber immer offener, immer unverfrorener. Unterschiedliche Maßeinheiten wurden eingeführt. Die, die für die Chatter gelten und die, die für alle anderen gelten.

In Joseph Roths Roman „Das falsche Gewicht“ gibt es den Eichmeister Anselm Eibenschütz (in der Verfilmung von Helmut Qualtinger großartig gespielt). Die Aufgabe von Eibenschütz ist es, Gewichte auf den Märkten zu kontrollieren. Er tut es pedantisch und aufsässig. Ein schrecklicher Typ. Und dennoch würden wir Anselm Eibenschütz gerade jetzt dringend brauchen.

Wohin man sieht, stimmt die Gewichtung nicht. Das Zustandekommen des Ibiza- Videos wiegt schwerer als sein Inhalt. Die Sauberkeit der Fußnägel einer angeblichen Oligarchen-Nichte wiegt schwerer als der geplante Ausverkauf der Republik. Die Larmoyanz der Befragten im Untersuchungsausschuss wiegt schwerer als ihr Schweigen oder ihre Lügen. Eine Hausdurchsuchung bei einem Politiker wiegt schwerer als der Fund. Eine Suspendierung wiegt schwerer als Geheimnisverrat.

Und dann, die liebe Macht. Die Macht wiegt schwerer als das, was man mit dieser Macht für die Menschen zum Besseren verändern könnte. Die Macht zu gewinnen, wiegt schwerer, als den Willen derer, die einen gewählt haben, umzusetzen. Die Macht zu erhalten, wiegt schwerer als das korrumpierte Verhalten, das vielen dafür nötig erscheint.

Diese jämmerlichen Leichtgewichte, die ihr persönliches Gewicht mit dem Gewicht ihres Amtes verwechseln!

Aber wenn die Gewichtung nicht mehr stimmt, dann stimmt die Statik einer Gesellschaft nicht mehr und schon gar nicht die Statik von politischen Kartenhäusern. Kartenhäuser sind nicht erdbebensicher. Das herannahende Erdbeben, ist aber mittlerweile – auch ohne Seismograph – von allen zu spüren.

Ihr Harry Bergmann

Haben Sie gesehen, was am Samstag bei dem Fußballmatch Dänemark gegen Finnland passiert ist? Nicht mehr und nicht weniger, als Solidarität, Zusammenhalt, Menschlichkeit, gegenseitiges Helfen und gegenseitiges Schützen. Wir könnten jetzt eine Menge davon gebrauchen.

Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.