Danach und Tanach

Wer werden wir sein, wenn die Pandemie nicht mehr sein wird?

Harry Bergmann
am 02.05.2021

Abonnieren Sie Harry Bergmanns Loge 17:

Harry Bergmann sieht auf den Horizont. Dort, wo davor, jetzt und danach zusammenkommen.

Nachdem wir das Wichtigste schon geklärt haben, dass nämlich die Loge 18 im Café Mocca das israelische Pendant zur (delogierten?) Loge 17 im Café Landtmann ist, können wir die Reise fortsetzen. Es ist an der Zeit, dass Sie ein paar Brocken Hebräisch aufschnappen. Nur mit „lechaim“ werden Sie es höchstens zum veritablen Alkoholiker bringen, was Sie in Corona-Zeiten zum Hochrisikopatienten macht, und wer will das schon?

Es gibt diesen Satz: „eim ata kam baboker ve ata lo …… kol hashar bonus.“ Ziemlich wortwörtlich übersetzt: „Wenn Du in der Früh aufwachst und Du bist nicht …… ist alles andere ein Bonus.“ Sie können tagesaktuell jede Person einfügen, die Ihnen besonders auf den Keks geht. Immer nur Kickl, Sobotka, Doskozil oder Pilnacek einzufügen beraubt Sie vieler anderer interessanter Möglichkeiten.

Während der Pandemie hat sich dieser Satz jedenfalls gewandelt: „eim ata kam baboker kol hashar bonus.“ „Wenn Du in der Früh aufwachst, ist alles andere ein Bonus.“ Klingt doch gleich demütiger, einsichtiger und bescheidener, oder?

Das führt uns zu jener Frage, die sowohl bei uns in Israel, aber auch bei uns in Österreich, seit Monaten die Runde macht. „Wird uns die Pandemie verändern?“

Ich will jetzt nicht oberg’scheit ve (siehe oben: und) arrogant klingen, aber ich habe es schon vor Monaten gewusst. Ich habe es nicht nur gewusst, ich habe es auch gesagt. Oft ve oft. Wir werden nach der Pandemie die Gleichen sein wie vor der Pandemie. Der Mensch vergisst schnell. Nein, nicht der Mensch, die Menschen. Die oder der Einzelne trägt oft innere oder äußere Verletzungen, Kränkungen, Unrecht, Schicksalsschläge ein Leben lang mit sich herum. Jetzt womöglich auch noch die pandemischen Folgen: Verlust der Gesundheit – vielleicht für immer – Verlust der Arbeit, Verlust des Ersparten ve Aufgebauten. Wer kann so etwas verkraften, geschweige denn vergessen?

Die Gesellschaft aber, die vergisst schnell. Das Ganze kann auch weniger sein als die Summe seiner Teile.

Ich erinnere mich noch, was die Horxe dieser Welt gefaselt haben. Wir werden eine solidarischere Gesellschaft sein, eine genügsamere, eine mitfühlendere. Wir werden unser leistungsgetriebenes Wertesystem an den Nagel hängen. Wir werden dem rollenden Rubel – nicht dem Putin-Rubel, sondern dem sprichwörtlichen – nicht mehr so nachjagen, weil wir zur Erkenntnis gelangen werden, dass er immer schneller rollen wird, als wir laufen können.

Wir werden mehr auf unser Nervenkostüm achten, weil es dafür keine Änderungsschneiderei gibt. Ve hätte es keine Lockdowns ve Betretungsverbote der Bundesgärten gegeben, hätten wir uns baboker (siehe oben: in der Früh) wallende Gewänder angezogen ve wären barfuss auf dem Morgentau der Wiesen dahingeschwebt.

Was ist passiert? Das genaue Gegenteil. Die Gräben sind tiefer geworden. Das gegenseitige Misstrauen größer. Der Neid hat sich auf eine Impfspritze zugespitzt. Es wurde noch nie soviel Wasser gepredigt ve Wein getrunken (damit meine ich nicht nur, aber selbstverständlich auch, Harald Mahrer, den ich beschlossen habe, in den nächsten zehn Kolumnen, egal in welchem Zusammenhang, aber nie in einem positiven, zu erwähnen).

Ve die Politik? Sie hat keine Kontrolle mehr über das, was geschieht, also konzentriert sie ihre Aufmerksamkeit nur mehr auf das, was bei der nächsten Wahl geschehen soll. Ohne aktive Führung ve lautes, strenges Einmahnen machen die Schäfchen, was sie wollen. Ich weiß, ich mach mir keine Freunde damit, aber ich kann unseren Herrn Bundespräsidenten davon nicht ganz ausnehmen.

Leute, versteht Ihr nicht, was es bedeutet, dass immer mehr sich „ihr Leben zurückwünschen“?! Welches Leben ist denn damit gemeint? Na klar, das alte Leben, in dem man wieder so sein kann, wie man immer war.

„Klugscheisser!“ Ja, ich verstehe Ihren Unmut, Sie, die jetzt lieber an meiner Stelle wären und sonnengebräunt, viel gescheitere Texte nach Wien mailen würden. Außer Renate Götschl, denn die will ja Präsidentin des ÖSV werden und das kann man nur in Österreich in einer rot-weißen Pudlhaub’n und nicht in Israel im Bikini.

Ich erzähle ja nur, was ich hier sehe ve höre. In der Loge 18 ve in den anderen Logen daneben. Ich kenne die Leute schon von lange vor der Pandemie, ve es hat sich nichts, aber schon gar nichts, verändert.

Natürlich sind Israelis anders als Österreicher. Sie sind – ich sage das mit aller Vorsicht – forscher, selbstbewusster, ja siegessicherer. Das mit dem „siegessicher“ kommt von den gewonnen Kriegen. Die Kriege haben auch bei der Corona-Bekämpfung geholfen. Israelis wissen, was eine Generalmobilmachung ist. Sie wissen, dass Disziplin im Ausnahmezustand die wichtigste Waffe ist. Sie wissen, wie es ist, in einem Feldlazarett unter schwierigsten Bedingungen zu arbeiten. Sie wissen, dass sich ein Soldat blind auf seine Kameraden verlassen muss und kann. Sie wissen, dass ein vorgesetzter Offizier immer voran gehen wird, koste es ihn, was es wolle. Sie kennen das oberste Prinzip der israelischen Armee, niemanden verletzt zurückzulassen. Das hat die Armee den Eltern der Soldaten geschworen.

Aber – das war ja klar, dass ein Aber kommen musste – Israelis haben keine Geduld. Ve sie sind es auch nicht gewohnt, dass ein Krieg länger als ein paar Wochen dauert. Daher gab es immer wieder auch große Corona-Rückschläge.

Natürlich sind die Corona-Erfolge in Israel – neben einer Reihe von politischen Schachzügen – einer beispielhaften, digitalen Fortschrittlichkeit zu verdanken. Aber ein Land, ein Staat, eine Gesellschaft geht nie in nur eine Richtung. Wo Licht, da Schatten. Wo nach vorne gewandt, da auch nach hinten gewandt. Wo der elektronische Grüne Pass, da der tanach (wieder ein hebräisches Wort gelernt: der tanach ist die Sammlung aller heiligen Schriften). Wo Säkularismus, da Orthodoxie. Wo ein High-Tech-Glaspalast, da eine heilige Stätte.

Genau an so einer heiligen Stätte kam es vor ein paar Tagen zur Katastrophe. Zu einem Fest von Ultra-Orthodoxen, zu dem tausend Teilnehmer zugelassen waren, kamen Hunderttausend, wenn nicht sogar Hunderttausende. In einem engen Gang stolperte einer ve dann andere, ve die zum Ausgang drängende Menschenmasse begrub einige hundert unter sich. 45 Tote, die täglich mehr werden ve über 150 Schwerverletzte.

Es zählen alle Toten gleich, ob von Covid oder vom religiösen Fanatismus infiziert.

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.

Abonnieren Sie Harry Bergmanns Loge 17:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Loge17 finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!