Wessen Sorgen will man schon haben?

Man sollte seine Sorgen nie mit jemand anders tauschen wollen. Man weiß gar nicht, was man sich dabei einzieht.

Harry Bergmann
am 28.04.2021

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Das Leben in der Loge 18 | Foto: Privat

Ein Bild sagt eben nicht mehr als 1000 Worte. Daher muss ich dem Bild, das heute meine Kolumne verschandelt, ungefähr 1000 Worte folgen lassen.

Aber bevor ich das tue, möchte ich gleich einem Irrtum entgegentreten. Nämlich Ihrem Irrtum, liebe Leserinnen und Leser. Es ist mir nicht entgangen, was Sie sich gerade zugezischelt haben. „Wir sind in einem Lockdown, wir haben eine 7-Tage-Inzidenz von über 150, wir impfen so langsam, dass man den Impfern die Schuhe im Gehen aufdoppeln kann, wir haben einen neuen Gesundheitsminister, der nie Joschka Fischer werden wird, da kann er noch solange Turnschuhe anziehen, wir öffnen so „vorsichtig“ wie der Motorradfahrer, der zwar keine Ahnung hat, wohin er fährt, aber Hauptsache er kommt dort früher an, wir müssen uns mit einem Nationalratspräsidenten herumschlagen, der über die Wahrheit im Untersuchungsausschuss laut nachdenkt, wir haben einen ÖVP-Obmann, der mit Alleingängen innerhalb der EU irrlichtert, wir haben Doskozil und vor allem – damit ist uns das Mitgefühl der ganzen Welt sicher – wir haben Harald Mahrer, und dann kommt dieser österreichisch-israelische Dolm und hat keine anderen Sorgen, als uns Urlaubsfotos zu schicken!?“

Damit eines gleich klar ist: ich mache hier keinen Urlaub! Ich bin in meiner anderen Heimat und habe hier im Cafe Mocca meine Loge 18 bezogen, um Ihnen Nachrichten aus Ihrer – ja, Ihrer – pandemischen Zukunft zu übermitteln. Und wenn ich das in kurzen Hosen mache, ist das einzig und alleine meine Sache. Warum Loge 18? Im Hebräischen können Zahlen auch als Buchstabenkombinationen geschrieben werden. Die Zahl 18 ergibt das Wort CHAI und CHAI heißt „Leben“. Nicht mehr, aber gewiss nicht weniger. Also!

„Andere Länder, andere Sitten“. Eh klar. Aber auch „Andere Länder, andere Sorgen.“ Daran musste ich denken, als ich gestern die Loge 18 verließ, um ins Zentrum von Tel Aviv zu fahren. Plötzlich eine Riesen-Demo vor mir. Ich dachte noch: „Stell Dir vor: fast kein Corona-Problem mehr im Land und trotzdem eine Corona-Demo.“ Da sah ich ihr Bild.

Sagt Ihnen der Name Sarah Halimi etwas? Höchstwahrscheinlich nicht. In Israel sagt dieser Name sehr vielen etwas, vor allem französischen Juden, die den radikalen Antisemitismus nicht mehr ausgehalten haben und nach Israel ausgewandert sind. Halimi, 65, wurde in ihrer Wohnung in Paris, überfallen, geschlagen und von ihrem Balkon geworfen. Die letzten Worte, die sie auf dieser Welt hörte waren „Allahu Akbar“. Der Mord geschah am 4. April 2017 und der Mörder ist nie vor Gericht gestellt worden. Es wurde ihm Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat auf Grund von Drogenkonsum zugestanden. Der Skandal daran ist, dass es nie zu einem Skandal gekommen ist, weil der antisemitische Hintergrund der Tat sowohl von der Polizei, als auch den Gerichten unterschlagen wurde. Jetzt soll dem Täter in Jerusalem der Prozess gemacht werden. Natürlich wird er von Frankreich nicht ausgeliefert werden, aber zumindest eine späte Gerechtigkeit für Halimi wäre hier in Israel schon ein großes Zeichen.

Sie sehen, Corona ist nicht das einzige globale Virus und gegen das Virus des Antisemitismus und Judenhasses gibt es noch keine Impfung, wird es sobald auch nicht geben. Einen Grünen Pass schon gar nicht. Kein Geschäft.

Das mit dem Grünen Pass ist schon was Feines. Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie den ÖVP-Obmann (ich liebe diese Bezeichnung!). Er durfte vor ein paar Wochen das Handy von Likud-Obmann Netanjahu eine Minute lang halten, und dabei gingen ihm vor allem zwei Dinge durch den Kopf. Erstens, ob man das Ding auch in Türkis haben kann und zweitens, was passiert, wenn das Handy beschlagnahmt wird.

Umgekehrt, also ohne Grünen Pass, ist es aber schon ziemlich mühsam. Wenn man darauf besteht, in einem Restaurant drinnen in der 16 Grad Aircondition sitzen zu wollen, dann kann man schon mal danach gefragt werden. So geschehen, als ich zu meinem Lieblingsjapaner ging, der leider keinen Sashimi-Shani-Garten hat. An der Eingangstür baute sich vor mir eine japanisch-israelische Fleisch- und Muskelwand mit Krav Maga-Erfahrung auf. Die israelische Martial Art Technik ist vor allem für Leute mit einer sehr kurzen Aufmerksamkeitsspanne zu empfehlen. In drei Sekunden ist der Gegner tot. Dieses wissend, streckte ich meinen gelben österreichischen Impfpass in devoter Haltung- hatte fast schon etwas mit einem japanischen Kapitulations-Ritual zu tun – dem Türlsteher entgegen. Er war schon irgendwie begeistert, aber eben nicht sehr. Ich versuchte ihm die Gleichwertigkeit meines gelben Impfpasses zu erklären, was sich schon deshalb als schwierig erwies, weil die beiden Pfizer-Einträge die einzigen im Pass sind. Sonst gähnend leere Seiten.

Irgendwie kam ich unverletzt ins Lokal, wohl deshalb, weil ich keinen satisfaktionsfähigen Gegner abgab.

Natürlich habe ich mich schon erkundigt, ob ich meinen gelben, analogen Pass in einen grünen, elektronischen Pass umwandeln kann. Ich kann. Dazu muss ich aber zuerst einer der 4 Krankenkassen beitreten. Um einer der 4 Krankenkassen beizutreten, brauche ich aber eine israelische ID-Card mit einer ID-Nummer. Die ID-Nummer in meinem israelischen Pass ist zwar ident mit der ID-Nummer auf der ID-Card, auf die ich jetzt wochenlang warten muss, aber es hat auch keiner behauptet, dass es in der Start-Up-Nation keine Bürokratie gibt.

Sehen Sie, und jetzt kommen meine kurzen Hosen wieder ins Spiel. Würden Sie stundenlang in Ämtern herumsitzen, wenn Sie in der gleichen Zeit am Strand spazieren können?

Was ich aber eigentlich sagen will, ist, dass zwei Heimaten schon schön sind, aber sie haben einen Preis: Sorgen hier und Sorgen dort.

Ihr Harry Bergmann

Übrigens: gestern waren hier 0,3% der Getesteten positiv. Ist nicht nix, aber fast nix.


Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.

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