Bei uns in der Zukunft

Wenn Harry Bergmann "bei uns" sagt, ist das nicht so eindeutig, wie es klingt.

Harry Bergmann
am 25.04.2021

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Eine Zahl, die den Erfolg der israelischen Impfkampagne belegt

Nehmen wir an, Sie könnten in einer Zeitmaschine entweder nach vorne in die Zukunft oder zurück in die Vergangenheit reisen. Wofür würden Sie sich entscheiden? Ach ja, eines noch: Sie dürfen Ihr Wissen von heute mitnehmen.

Liebe Leserinnen und Leser, ich habe Sie im Verlauf des letzten Jahres nicht nur kennen, sondern auch schätzen gelernt und weiß daher, dass ich Ihnen für die Beantwortung dieser Frage keinen Rat aufdrängen muss, auch wenn er nicht ganz unwesentlich wäre: Bitte lernen Sie aus der Geschichte und überprüfen Sie, ob Zukunft wirklich das Attribut „vorne“ verdient und Vergangenheit unbedingt „zurück“ bedeuten muss.

Ich nehme an, viele von Ihnen würden dennoch sagen: „Ich reise in die Zukunft, und wenn ich zurückkomme, dann verhindere ich die Fehler, die in der Vergangenheit dieser Zukunft gemacht worden sind.“

Das ist natürlich aus mehreren Gründen völliger Unsinn. Erstens haben wir nicht ausgemacht, dass Sie zurückkommen dürfen. Zweitens sagen Sie das aus purer Neugierde über die Zukunft. Und drittens hat die Menschheit noch nie aus der Vergangenheit gelernt.

Ich hätte geantwortet, dass ich lieber in die Vergangenheit reisen möchte. Meine Motive will ich gar nicht diskutieren. Ich kann mir gut vorstellen, was sich manche denken: „Dieser Komplexler, dieser Nebbochant, der es zu nichts gebracht hat, will sich mit dem Wissen von heute in der Vergangenheit groß aufspielen.“ Die können denken, was sie wollen, es ist ohnehin das Gegenteil passiert. Denn ausgerechnet ich bin am letzten Montag am Abend in der Zukunft gelandet. In Israel. „Ha,ha, des vergunn ich ihm. Jetzt soll er schauen, wie weit er mit seinem Nicht-Wissen kummt bei seinen Glaubensgenossen. Weil glauben haßt nix wissen, ha, ha!!“

Wir wollen das jetzt nicht überdramatisieren. Es ist ja nicht die ferne Zukunft. Es ist vielleicht ein halbes Jahr oder Jahr. Davon müssen Sie sogar eine Stunde Zeitdifferenz, die im Moment besteht, abziehen. Es ist auch nicht d-i-e Zukunft, sondern die pandemische Zukunft. Und auch das nur, wenn uns keine neuen Mutanten, um die Ohren fliegen. Fledermaus in China würde ich sicherheitshalber keine essen.

Bevor mich jetzt alle Evidenzparanoiker und Antisemiten (das ist natürlich nicht als Personalunion gemeint) durch Sonn‘ und Mond schießen, werde ich zum Beweis mit ein paar Zahlen um mich werfen.

Ich fang einmal mit 5.356.666 an. So viele Israelis sind durchgeimpft. Eigentlich ist die Zahl falsch, weil sie vom 18. April stammt. Sie ist also aktuell noch höher. Wieviel Leute zumindest eine Impfung haben, weiß ich leider nicht, aber ich schätze, es werden mehr als 75% der Gesamtbevölkerung sein. Wenn man davon die Impfgegner oder-skeptiker abzieht, nähert sich die israelische Impfkampagne wohl langsam ihrem Ende.

Während bei uns in Österreich noch viele der ersten Impfung entgegenfiebern (sic!), redet man bei uns in Israel schon von der dritten Impfung. Angeblich sollen die Dosen schon vorbestellt sein, aber vielleicht ist das auch nur der Beginn des Wahlkampfs für die 5. Wahl innerhalb kürzester Zeit. Wahlzuckerln waren gestern, heute sind Wahljaukerln.

Das führt mich zu der Zahl 61.

61 Sitze werden in der Knesseth (israelisches Parlament) benötigt, um eine Mehrheit zu bilden. Benjamin Netanjahu wurde mit der Regierungsbildung beauftragt, hat aber bisher die 61 Sitze noch nicht beisammen. Koalitionen bei uns sind nicht so einfach, wie bei uns. Es gibt ein gutes Dutzend Parteien, die in die Knesseth gewählt wurden. Wenn man sieht, was sich bei uns in Österreich mit 5 Parteien abspielt, dann kann man sich in etwa ausmalen, wie es bei uns in Israel zugeht. Aber darum geht es mir eigentlich gar nicht. Ich wollte nur einen kleinen Demokratievergleich anstellen.

In Israel nützt einem das beste Impfmanagement der Welt nicht, um ungehindert an die Macht zu kommen, in Österreich schadet einem das schlechteste Impfmanagement nicht, um ungehindert an der Macht zu bleiben. Oder habe ich mich bei einigen österreichischen Kommentaren über das Demokratieverständnis in Israel verhört?

So sehr einem das Herz übergeht, das Leben in „Freiheit“ zu sehen und selbst ein Teil davon zu sein, so sehr gibt es aber auch Teile der pandemischen Zukunft, die einem missfallen. Oder sagen wir besser, die einem Vorsichtigen wie mir missfallen. Es ist diese Haltung der Unbesiegbarkeit, die offensichtlich jedem Durchgeimpften in die Blutbahn schießt. Und wenn dieser Funke auf die ganze Gesellschaft überspringt, dann wird es für unsereinen, der grad noch im Lockdown gesessen ist, unheimlich. Das Virus ist absolut nicht so deppert, wie viele glauben.

Gestern, zum Beispiel, nahmen mich Freunde zu einer Ausstellungseröffnung mit. Ja, Sie hören richtig: Ausstellungseröffnung! Ein Wort, dass mich sofort daran erinnerte, nachzuzählen, wieviel Antigen-Test-Kits ich mitgenommen habe. Paranoia ist grenzenlos.

Beim Betreten des Ausstellungsraums und beim Anblick von etwa 300 dicht gedrängten Leuten (ich möchte nicht unter Eid aussagen, dass alle eine Maske trugen), musste ich an den Begriff „vorsichtige Öffnungen“ denken und machte einen vorsichtigen, aber sofortigen Abflug.

Soweit einmal ein erster Bericht aus der nicht vervirten Welt (sozusagen eine Anti-Seuchenkolumne) , den ich gern mit der schönsten Zahl beenden will. Nämlich 0. Gestern war der erste Tag mit 0 Toten bei uns in Israel. Hoffentlich auch bald bei uns in Österreich.

Ihr Harry Bergmann

PS.: Apropos Zahlen: Bitte sagen Sie mir, dass es nicht stimmt, dass mir jemand meine Loge 17 im Café Landtmann „quasi unter dem Arsch“ wegklagen will.


Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.

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