Eine Vorschau wie ein Rückblick

Wenn die ÖVP einen Koalitionspartner ohnehin nur als Sündenbock braucht, dann sollten alle Parteien dankend auf diese Rolle verzichten

Harry Bergmann
am 05.01.2021

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Wir Menschen sind schon seltsame Zeitgenossen. Bevor sich bei Ihnen Widerstand gegen diese Feststellung regt, stehe ich nicht an, zuzugeben, dass ich im vorderen Drittel der Seltsamen zu finden bin. Anders wäre es nicht zu erklären, warum ich meine Zeit damit verbringe, über die Zeit nachzudenken.

Die letzten Tage waren prädestiniert dafür, eine bisher als absolut sicher geltende These, dass nämlich die Zeit ein Kontinuum ist, in Frage zu stellen. Die neue Erkenntnis ist, dass sich Zeit aus einzelnen Abschnitten, die gar nichts miteinander zu tun haben, zusammensetzt. Diese sind zumeist 365 Tage lang. Manchmal 366 Tage. Wenn ein Abschnitt abgeschlossen ist, dann beginnt eine Sekunde später schon ein völlig anderer.

Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, woher ich diese abstruse Theorie nehme. Nun, wenn man sich freiwillig oder auch nicht, ein paar Neujahrsansprachen oder -kommentare reingezogen hat, dann weiß man, dass wir das verdammte, verseuchte 2020 auf Nimmer-Wiedersehen hinter uns gelassen haben und das virenfreie, sorgenfreie, schutzgeimpfte, Honolulu-Strandbikini-Jahr 2021 vor uns liegt.

Die Nacht vom 31.12. auf den 1.1. hat schon was Magisches. Man geht, etwas angetrunken, schlafen und wacht als neuer Mensch in einer neuen Welt auf.

Schmecks. Eben nicht!

Das Leben ist doch kein Abreißkalender. Man wacht als die oder der auf, als die oder der man schlafen gegangen ist. Nix anders. Nix geheilt. Nix reicher. Nix geläutert. Nix solidarischer. Nix der Pandemie entstiegen, wie Venus dem Bade.

Was soll sich auch groß geändert haben? Wir sind am 31.12. mit Türkis-Grün schlafen gegangen und am 1.1. mit Türkis-Grün aufgewacht. Das ist für mehr als 50% der Bevölkerung auch in Ordnung so und muss daher akzeptiert werden.

Aber muss ich es verstehen? Muss ich die Regierenden für das, was sie tun und das, was sie nicht tun auch noch respektieren?

Ich tu es jedenfalls nicht und viele, viele andere tun es auch nicht.

Martin Grubinger, der wunderbare, weltberühmte Perkussionist, der eine regelmäßige Kolumne in der Salzburger Krone hat – ja, es ist gut, dass Stimmen wie seine und die von Claus Pándi gerade auch dort zu hören sind – sagte mir vor ein paar Tagen, dass er das Türkise schon bröckeln hört. Wer bin ich, dem absoluten Gehör von Grubinger etwas entgegenzuhalten? Aus meiner tiefen, ehrfurchtsvollen Verbeugung vor dem Meister, murmle ich dennoch ganz leise nach oben: „Die Meinungsumfragen hören aber was anderes, Maestro.“

Was muss denn noch alles passieren, dass die Mär, der hübsche, junge Mann wäre ein politisches Jahrhundert-Talent, noch weiter Verbreitung und Anerkennung findet?

Wer behauptet eigentlich immer noch, Kurz sei das politische Jahrhundert-Talent? Foto: APA/Herbert Neubauer

Wer nur Machtgewinn und Machterhalt kann, ist kein politisches Talent.

Wer nicht regieren kann, ist kein politisches Talent.

Wer die Verantwortung für Misserfolge ständig auf andere schiebt, ist kein politisches Talent.

Wer außer dem eigenen übersteigerten Selbstwert, keine anderen Werte kennt, ist kein politisches Talent.

Wer sein eigenes Ansehen und damit auch das des Landes in der EU verspielt, ist kein politisches Talent.

Wer sich mit den falschen politischen Freunden umgibt, ist kein politisches Talent.

Wer keine Empathie hat und auch nicht das Gespür, wann man Menschlichkeit zu beweisen hat, ist kein politisches Talent.

Es sitzt ein Mann im Kanzleramt,

der hat ein Herz aus Stein.

Er möchte gern der Größte sein

Und darum sagt er: „Nein!“

Danke, Michael Köhlmeier.

„Kennst eine oder einen Besseren?“, wird oft entgegnet. Nein, kenne ich nicht. Weil sich die Spreu vom Weizen erst beim Regieren trennt. Wir müssen endlich aufhören zu relativieren. Einsteins E=mc2 ist keine politische Formel. Ja, die SPÖ ist in sich selbst verschwunden. Ja, die Neos sind vielleicht bald, aber noch nicht so weit. Ja, die Grünen haben sich im Regieren selbst verloren. Aber ich bin sicher, dass was geht. Denn wenn die ÖVP 40% hat, dann hat sie 60% nicht. Selbst wenn ich die ungefähr 12% der Blauen abziehe (was ich liebend gern tue), sind es immer noch 48%. Also.

Oder anders: wenn die ÖVP einen Koalitionspartner ohnehin nur als Sündenbock braucht, dann sollten alle Parteien dankend auf diese Rolle verzichten und die Türkisen es doch allein probieren. Schauen wir mal, wie weit sie kommen, wenn alles Ungemach nur an ihnen picken bleibt.

Und jetzt hat Türkis auch noch das Impfdebakel an der Backe. Zuerst mit der Impfpflicht kokettieren, dann kein Zeug herankarren und am Ende „verimpfen“ mit „verunglimpfen“ verwechseln.

Inmitten des Chaos, eine Lichtgestalt: Clemens Martin Auer. Kühl, wie eine Impfdose. Präzise, wie eine Impfnadel. Kundig, wie ein Impfplan. Er als einziger weiß, was Schutzimpfung heißt: er schützt uns alle davor, noch dieses Jahr geimpft zu werden.

Ich wünsche Ihnen dennoch oder gerade deswegen ein gutes, gesundes, glückliches Neues Jahr. Schauen Sie – in Zeiten, wie diesen – nicht allzuweit nach vorn. Morgen ist der erste Tag vom Rest ihres Lebens. Nutzen Sie ihn und genießen Sie ihn.

Ihr Harry Bergmann

Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.


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