Die Ratten

Die häufigsten Wunden, die Ärzte auf Lesbos behandeln, sind Rattenbisse an kleinen Kindern. Was gibt es hier noch zu diskutieren?

Harry Bergmann
am 16.12.2020

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Foto: APA/Tina Schwaha

Vergessen Sie bitte, dass ich mich vor ein paar Tagen verabschiedet habe. Dringende „Geschäfte“ verlangen wieder meine Anwesenheit. Es wäre aber nicht ich, wenn ich – trotz der Dringlichkeit – direkt zum Punkt kommen würde. Erlauben Sie mir also bitte, zu Beginn, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Ich habe nie verstanden, warum Tragikomödien „Tragikomödien“ genannt werden. Worin besteht die Komödie? Nur weil man vor lauter Anspannung und Entsetzen irgendein Wort, irgendeinen Satz als druckausgleichendes Ventil verwendet und anfängt zu lachen?

„Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann ist so eine Tragikomödie. Putzfrau verliert wegen der ärmlichen und von Ratten verseuchten Unterkunft ihr Neugeborenes. Dienstmädchen (noch ärmer) erwartet uneheliches Kind und will sich umbringen. Putzfrau kauft dem Dienstmädchen das Kind ab. Dienstmädchen überlegt es sich und will Kind zurück. Bruder von Putzfrau bringt Dienstmädchen um. Polizei will Kind ins Waisenheim bringen. Putzfrau bringt sich um.

Was, so frage ich Sie, ist an dieser Tragödie eine Komödie? Die Tragik hingegen ist völlig klar. Wenn Du über beide Ohren im Dreck steckst, wird alles, was Du in die Hand nimmst, zu noch mehr Dreck. Und am Ende, wenn alles wie auf einer schiefen Ebene bergab geht, zahlen unschuldige Kinder die Rechnung. Ein Leben lang. „Det jeht jetzt ooch zujrunde“, sinniert eine der Figuren des Stücks über das kleine Kind im Waisenhaus.

Das Stück ist mir eingefallen, als ich las, dass „Ärzte ohne Grenzen“ berichtet haben, dass die häufigsten Wunden, die sie in Kara Tepe zu behandeln haben, Rattenbisse an kleinen Kindern sind. Also nicht genug, dass ein Lager abbrennt, dass das Ersatzlager noch schlimmer ist, dass es pausenlos stürmt und regnet, dass die Zelte völlig durchnässt sind, dass es am Notwendigsten fehlt, jetzt auch noch Ratten.

Ja, man müsste die türkise Kerntruppe endlich dazu bringen etwas zu tun oder es zumindest den vielen Freiwilligen erlauben und überlassen, selbst etwas zu tun. Es wird nicht passieren!

Ja, man müsste die Grünen dazu bringen, aus ihrem künstlichen Tiefschlaf zu erwachen und sich zu erinnern, wer sie einmal waren. Es wird wohl nicht passieren!

Ja, man müsste die Griechen dazu bringen ihre Haltung aufzugeben. Es wird, so schnell, nicht passieren!

Ja, man müsste die Deutschen dazu bringen mit den Griechen zu reden. Es wird vielleicht passieren, aber es wird nachher nichts passieren!

Ja, man müsste die EU dazu bringen endlich einmal Zähne zu zeigen. Es wird sicher nicht passieren!

Ja, man müsste die UNHCR dazu bringen, mehr als nur aufmerksam zu machen, zu fordern, zu drängen. Es wird so sein, als wäre es nie passiert!

Ja! Ja! Ja! Je höher wir die Lösung des Problems hinaufdelegieren, desto länger werden die Flüchtlinge im Schlamm versinken und desto früher wird das Verdrecken enden und das Verrecken beginnen.

Evacuate now! Die einzig sinnvolle Forderung. Aber wir müssen aufhören zu fordern und anfangen etwas zu tun. Nicola Werdenigg, eine der vielen Amazonen (Doro Blancke, Steffi Krisper, Katharina Stemberger …), die ich in den letzten Tagen kennenlernen durfte, hat das mit ihrer alpinen Erfahrung gut beschrieben: „Wenn die Lawine abgegangen ist, dann muss man mit allen Mitteln versuchen die Verschütteten auszubuddeln und nicht den Lawinenschutz an sich diskutieren.“

Es wird neben vielen Aktivitäten auch eine Spendenkampagne starten, bei der Doro Blancke im Mittelpunkt steht. Doro ist vor Ort. Dort, wo die Katastrophe passiert. Und genau dorthin, wird auch das Geld kommen (Spendenkonto: Doro Blancke / AT93 3842 0000 0002 7516)

Wir werden uns bemühen Doro so gut es geht zu helfen (derzeit werden Winter-Survival-Kits bestellt, um so schnell wie möglich geliefert zu werden) und sollten wir müde werden, dann brauchen wir nur an das 3-jährige Kind denken, das misshandelt die Nacht im Schlamm verbracht hat.

Ich bin ganz sicher, dass unser Herr Bundeskanzler an all das gedacht hat, als er mit Tränen in den Augen verkündete, dass die Bundesregierung das Weihnachtsfest für alle Österreicher gerettet hat. Die, die nur in Österreich leben, konnte er diesmal getrost vergessen, denn die haben ja kein Weihnachten.

Ihr Harry Bergmann

Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.


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