Damokles und die Lemminge. Der Versuch einer Annäherung

Im Krisenmanagement der Regierung ist in letzter Zeit ziemlich viel schief gelaufen. Gehen wir nun auch noch absichtlich in großen Schritten auf den Abgrund zu?

Harry Bergmann
am 04.12.2020

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Geht es Ihnen auch so? Es belastet mich nichts, aber es bedrückt mich etwas. Etwas Undefinierbares. Oder vielleicht die Undefinierbarkeit selbst. Es ist mir sehr wohl bewusst, dass dieses Gefühl von der Pandemie kommt, von der Angst dieses Virus einzufangen, von diesem ewigen Auf- und Zusperren, von der psychischen Anstrengung sich immer wieder neu zu kalibrieren, von dem nagenden Zweifel, ob die Information, die der Fernseher, die Zeitung oder meine online Plattformen ausspucken, tatsächlich eine Information und kein Spin oder gar Gespinnst ist.

Man kann sich auf rein gar nichts mehr verlassen. Selbst die relativ einfachen, täglichen Infektionszahlen sind zu kabbalistischen Mysterien verkommen. Einmal wurden weniger Leute getestet, dann wurden die Zahlen nicht rechtzeitig gemeldet, dann hat das Innenministerium andere Zahlen, als das Gesundheitsministerium, dann erzählt man uns, dass die Zahlen nicht so sind, wie sie sein sollten, aber gleichzeitig Hoffnung geben. Jetzt kommen die Massentests und schon hört man Unbehagen, ob man diese Zahlen mit den Zahlen vor den Massentests richtig „auseinanderdröseln“ wird können, weil ja sonst keiner weiß, wie diese Zahlen zu interpretieren sind. Puh!

Der Damokles, der hatte es echt gut. Der konnte ganz genau sehen, dass das Schwert, das über ihn hängt, von einem Pferdehaar gehalten wird. Und er wusste auch, wem er das Ganze zu verdanken hatte: diesem grausamen Tyrannen Dionysios.

Hat die Gefahr zumindest im Blick: Damokles unterm Schwert | Richard Westall: The Sword of Damocles ( Gemeinfrei)

Ich bin aber weder ein Günstling am Hof – wüsste nach der 4. Staffel von „The Crown“ auch nicht wirklich, ob ich das sein wollte – noch kann ich die Gefahr sehen, und schon gar nicht weiß ich, wer die Schuld an diesem ganzen Schlammassel zu tragen hat.

Und noch etwas: die Pein des guten Damokles dauerte nur ein Festmahl lang und er konnte sich auf fünf Fingern ausrechnen, dass schon nichts passieren wird. Der Tyrann wollte ihn ja nur schrecken.

Ich dagegen, habe die Arschkarte gezogen. Sie wissen sicher, dass die Arschkarte deshalb Arschkarte heißt, weil der Fußball-Schiedsrichter die rote Karte in seiner Gesäßtasche aufbewahrt.

Ich sitze in einem Land, dessen Karte von links nach rechts, von oben nach unten nichts anderes, als rot ist. Viele meiner Mitbürger haben diesen melodramatischen Wunsch „ihr Leben wieder zurückhaben zu wollen“. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele von denen ihr vorpandemisches Leben gar nicht so wunschlos glücklich gefunden haben. Aber okay. Ich bin jedenfalls bescheiden: ich will nur eine andere Farbe, als Rot, zurückhaben. Kann ruhig ähnlich sein. Orange zum Beispiel.

Dann wüsste ich mit einiger Sicherheit, dass nicht alle Entscheidungen im Zuge des Corona-Managements falsch gewesen sein können. Natürlich kann man sich diese vermeintliche Sicherheit auch auf andere Weise aneignen. Man wechselt das Medium. Also von kritisch auf regierungstreu. Manchmal braucht man gar nicht das Medium wechseln. Im ORF genügt der Sprung von der ZIB 2 auf die ZIB 1. Dann ist eigentlich eh alles dulli.

Sei es wie es sei. Gestern war wieder Pressekonferenz und es wurden uns die Lockerungen von den Verschärfungen und die Verschärfungen von den Lockerungen aufgesagt. Diesmal, und da muss man dem Herrn Bundeskanzler schon danken, wurde endlich die monatelang diffuse Schuldfrage geklärt. Ich muss sagen, ich fühle mich dem Damokles spürbar näher. Die Gefahr ist sichtbar geworden. Das Schwert heißt mač oder meč, hängt an einem abgewetzten Wollfaden und kommt vom Balkan.

Der Kanzler ahnte die Gefahr schon seit Langem und sperrte die Balkanroute. Damals noch voller Empathie nur in eine Richtung. Jetzt aber, der Not gehorchend, in beide Richtungen. Natürlich nicht so plump, wie ich das hier beschreibe, sondern mit einem ausgeklügelten Sperrmechanismus. Man kommt ganz leicht aus Österreich hinaus, je weiter desto besser, aber man kommt nur sehr schwer wieder zurück. Dafür wurde ein eigener Quarantäne-Riegel entwickelt.

Natürlich hat der Kanzler, als echter Europäer und ehemaliger Integrations-Staatssekretär diesen Riegel mit anderen Europäern und anderen Sekretären abgestimmt und wird ihn nur im Gleichschritt mit diesen einführen. So wie zwischen dem guten Damokles und mir kein Blatt mehr passt, so halten es auch die beiden Freunde Söder und unser hochverehrter Kanzler.

Es läuft alles prima, wie wir uns beim letzten ZIB 2 Interview zwischen dem Kanzler und Armin Wolf überzeugen konnten. Dennoch beschleicht mich immer noch dieses seltsame Gefühl, von dem ich Ihnen am Anfang erzählt habe. Ich mache aber Fortschritte. Ich kann es schon ein wenig visualisieren.

Ich sehe, dass wir nur mehr wenige Schritte vor einem Abgrund stehen. Viele falschen Schritte können wir nicht mehr machen, sonst stürzen wir, wie Lemminge, in die Tiefe. Jahrzehnte lang hat man übrigens geglaubt, dass Lemminge Massen-Selbstmörder sind, die versuchen ihre Art vor Überpopulation zu retten. Kein Wort wahr!

Na ja, dann könnte ich mich eigentlich jetzt beruhigt zurücklehnen, im Wissen, dass auch wir nicht freiwillig Schritte in Richtung Abgrund machen werden. Nicht wahr, liebe Bundesregierung?

Das nächste Mal schreibe ich (noch immer nicht in der Loge 17) über die nächste Pressekonferenz oder wiedermal über den Ibiza-Untersuchungsausschuss oder über das Grasser-Urteil oder vielleicht über etwas wirklich Interessantes.

Ihr Harry Bergmann

Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.


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