Die Unverstandenen und die Uneinverstandenen

Wenn Regierungen kein Einverständnis in der Bevölkerung mehr erzielen können, beginnen sie sich nur mehr um sich selbst zu kümmern

Harry Bergmann
am 27.11.2020

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Ich habe diese Kolumne dreimal begonnen. Das erste Mal habe ich sie gar nicht begonnen. Der Grund dafür ist persönlich und langatmig und wird Sie, berechtigterweise, nicht interessieren.

Das zweite Mal habe ich so angefangen: „Kraklokwafzi?“ klingt irgendwie nach einer drängenden Frage und „Semememi!“ wäre eine mögliche Antwort darauf oder das beschwichtigende „Lalu lalu lalu la!“. Aber wir sind leider nicht in Christian Morgensterns Gedicht „Das große Lalula“, wir sind mitten in einer Pandemie, die bleiern auf uns liegt. Wir haben keine Zeit für Wortbilder, obwohl wir sie uns nehmen sollten. Denn Wortbilder muss man nicht verstehen, man muss sie spüren. Wir aber spüren seit Monaten nur mehr uns selbst und auch das manchmal nicht mehr.

Wir liegen unter einem Geröll von unbeantworteten Fragen, existenziellen Fragen. Werde ich krank? Wenn ich krank werde, werde ich sterben? Wenn ich nicht sterbe, werde ich wieder ganz gesund oder bleibt etwas zurück? Werde ich das alles wirtschaftlich überleben?

Es ist ja nicht so, dass wir keine Antworten bekommen. Im Gegenteil, wir bekommen eine Unzahl von Antworten, nur sind die völlig unterschiedlich, zum großen Teil sogar widersprüchlich. Das ist viel schlimmer als gar keine Antwort zu bekommen.

Eigentlich ein recht schöner Beginn für eine Kolumne und auf das Ende hätte ich mich selbst gefreut. Ich hätte auf eine Textstelle des Gedichts hingewiesen, nämlich „quasti basti bo“. Ich hätte irgendeine Spitze gegen den Quasti-Basti anbringen können. Das hätte eine Gruppe des Publikums sehr amüsiert und die andere Gruppe sehr verärgert. Ich hätte in beiden Fällen meinen Spaß gehabt. Aber was hätte das mit dem Titel der Kolumne zu tun?

Also fange ich einfach nochmals an. Es gibt ein uraltes Kommunikationsgesetz: Gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht einverstanden. Ich würde gern den ersten Teil überspringen, schon allein deshalb, weil es ein Segen wäre, wenn man derzeit nicht alles hört, was gesagt wird.

Dort, wo es ums Verstehen und Verstandenwerden geht, möchte ich einhaken. Wir verstehen uns nicht mehr und – noch schlimmer – wir wollen uns nicht mehr verstehen. Und so laufen lauter Unverstandene auf der Welt herum. Aber weil niemand als Einzelner unverstanden sein will, haben sich die Menschen zu verschiedenen Gruppen zusammengeschlossen. Innerhalb dieser Gruppen versteht man sich plötzlich ganz prächtig. Vor allem darin, dass eine andere Gruppe an allem schuld ist.

Die Gräben werden immer tiefer. Die ohnehin schon spärlichen Brücken werden allesamt eingerissen. Bei Shakespeare hatten diese Gruppen noch Familiengröße und Namen, Capulet und Montague. Heute können diese Gruppen enorme Ausmaße annehmen. In Amerika zählt die eine Gruppe fast 80 Millionen und die andere fast 74 Millionen Menschen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sich diese beiden Gruppen nicht mehr mit Worten begnügen. Jetzt auch noch die Pandemie. Neue Gruppen. Neue Gräben. Neues Unverständnis. Neue Schuldige.

Und die Regierenden? Dieses riesige politische Panoptikum, das zum Teil noch unerträglicher als das Virus selbst ist.

Die Regierenden sind zu einer eigenen Gruppe geworden. Abgehoben von den Gruppen, die sie versöhnen sollten, abgehoben von den Prinzipien derentwegen sie gewählt wurden, abgehoben von den Gesetzen, innerhalb derer sie sich zu bewegen haben, abgehoben von ihrer Aufgabe, dass alle, die von ihnen regiert werden, zumindest ein bisschen besser verstehen, was mit ihnen gerade passiert und mit dem Verstandenen auch einverstanden sind. Wohin man schaut, sieht man das gleiche Bild: die Politik bedient nur mehr ihre Gruppe, ihr Lager und macht die Gräben tiefer und tiefer.

Wenig Verständnis zwischen Demonstrierenden und Polizei auf dieser „Querdenker“-Demo in Frankfurt | Foto: APA/dpa/Boris Roessler

In dem Moment aber, in dem eine Regierung kein Einverständnis in der Bevölkerung mehr erzielen kann, beginnt sie sich nur mehr um sich selbst zu kümmern. Hierzulande werden Abermillionen zur Seite gelegt, damit die Bundesregierung sich nicht mit dem Licht am Ende des Tunnels begnügen muss, sondern im großen Scheinwerferlicht des Eigenlobs erstrahlt. Man nennt das Public Relations. Welche „Relations“ zur „Public“ das sein sollen, frage ich mich allerdings.

Aber lassen wir einmal die Politik beiseite. Wir sind ja noch nicht – oder nicht nur – Ferngesteuerte, die sich ständig bei der Fernsteuerung beschweren, dass alles in die falsche Richtung geht.

Also. Wenn wir es nicht einmal in Zeiten einer verheerenden Seuche schaffen, zu begreifen, dass wir da nur mit einem gegenseitigen Verständnis und Einverständnis herauskommen, egal welcher Gruppe wir angehören, dann haben wir es nicht besser verdient.

Klingt doch ganz einfach, oder? Und warum passiert es nicht? „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Womit ich wieder bei Christian Morgenstern gelandet wäre.

Hätte vielleicht doch beim zweiten Kolumnen-Beginn bleiben sollen.

Das nächste Mal schreibe ich vielleicht gar nichts oder irgendwas, das Sie von mir nicht erwartet haben. Lassen Sie sich einfach überraschen.

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.


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