Der Einzeltäter

Auch wenn die konkrete Tat nur von einer Person begangen wird; an ihrer Radikalisierung sind immer viele beteiligt

Harry Bergmann
am 04.11.2020

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Man muss es nicht tun. Vielleicht sollte man es auch gar nicht tun. Einen Tag nach einer Terrorattacke über die Terrorattacke schreiben. Vor allem, wenn man davon ausgeht, dass der Anschlag erst dann beendet ist, wenn alle Täter verhaftet oder – wie es in der Terrorbekämpfung emotionslos heißt – „neutralisiert“ worden sind. Ich verstehe das.

Der Schock, die Wut, die Ungewissheit sind keine guten Schreibhilfen. Aber der eigentliche Grund es nicht zu tun, ist die Distanzlosigkeit. Man sieht nur die verwirrenden Details, statt in Ruhe einen Schritt zurück zu machen und das große Bild zu sehen.

Aber diesmal ist es genau umgekehrt. Das große Bild ist völlig klar. Seit Jahrzehnten. Es ist das gleiche Bild, wie bei allen islamistischen Anschlägen. Durch Imams, oder IS, oder andere Gruppierungen oder das Internet, oder was oder wem auch immer radikalisierte, junge Männer, schlagen im blinden Hass zu. Aber so blind ist der Hass dann doch wieder nicht, dass die Tat nicht generalstabsmäßig geplant und über Monate minutiös organisiert wird. Die einzigen furchtbaren Unterschiede sind die Anzahl der Opfer und die Wahl der Waffen.

Nachdem ich heute den ganzen Tag mit dem Begriff „Einzeltäter“ verbracht habe, sollte endlich mal festgehalten werden: ES GIBT KEINE EINZELTÄTER! Ja, die konkrete Tat ist vielleicht von nur einer Person begangen worden. Aber man sehe sich doch nur an, wie viele Menschen es gebraucht hat, den sogenannten „Einzeltäter“ zu dem Monster zu machen, das erschießt, das sprengt, das überfährt, das enthauptet.

In der Wiener Innenstadt wurde gestern den Opfern gedacht | Foto: APA/Helmut Fohringer

Und wenn wir schon beim großen Bild sind: der erste Gedanke war reflexartig der, dass der Anschlag irgendwas mit dem Stadttempel zu tun haben muss. Bei allen! Selbst wenn man wenig bis gar nichts über die jüdischen Mitbürger weiß, die Seitenstettengasse ist ein Begriff.

Kann schon sein, dass es nicht um die Synagoge ging, in der das Abendgebet schon längst vorbei und alle Tore geschlossen waren. Aber ich bin überzeugt, dass der Tatort dennoch kein Zufall war. Denn was immer das „Einzelmotiv“ des „Einzeltäters“ gewesen sein mag, Antisemitismus oder Antizionismus ist immer dabei. Sie mögen das in das Reich der „jüdischen Paranoia“ abtun, aber ich fürchte, die Geschichte gibt mir recht. Die besorgten und behutsamen Interviews mit dem Präsidenten der jüdischen Kultusgemeinde sprechen übrigens die gleiche Sprache.

Ich bin – wenn mich nicht eine kleine Pandemie davon abhält – mehrere Monate im Jahr in Israel. Ich habe sicher schon ein Dutzend Anschläge miterlebt – einen sogar hautnah – und ich kenne das Gefühl. Die Ohnmacht, den Schmerz, die Sorge, dass jemand, den man kennt unter den Verletzten oder gar Toten ist. Und ich kenne die Stigmatisierung des Tatorts. Wann immer man daran vorbeigeht, hat man die Bilder im Kopf. Man vergisst sie nie und man meidet die Orte so gut es geht. Vielen von uns wird es in den Gassen und auf den Plätzen, die wir gestern immer wieder und wieder im Fernsehen gesehen haben, so gehen. Und auch deshalb ist die Diskussion, was man zeigen soll und was nicht, und wie man es zeigen soll, keine rein kommunikationstechnische oder medienrechtliche, sondern eine ethische.

Was für eine Ironie, dass der vieldiskutierte Lockdown in Wien, vier Stunden vor dem ursprünglich verordneten begann. Und plötzlich verstanden alle, dass so ein Lockdown nicht nur pure Schikane, sondern auch Schutz bedeuten kann.

Wir haben gelernt. Wir haben gelernt, was es heißt zu helfen und füreinander einzustehen, wenn es wirklich darauf ankommt. Vielleicht könnten wir das in die Corona-Bekämpfung mitnehmen? Wir haben gelernt, dass wir im Guten, aber auch im Bösen ein Teil eines Ganzen sind. Wir haben gelernt, dass der Polizist nicht nur derjenige ist, der uns aufhält, weil wir zu schnell gefahren sind (was wir natürlich gar nicht sind), sondern auch sein Leben für uns einsetzt. Wir haben von einem türkisch-stämmigen, jungen Muslimen gelernt, was Integration ist. Wir haben gelernt, dass wir einen umsichtigen, väterlichen Bürgermeister haben. Wir haben gelernt, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, die Meinung über unseren Herrn Innenminister zum Positiven zu verändern und lieber abwarten sollten bis er Fehler seines Ministeriums auf ein grünes Ministerium schiebt. Wir haben gelernt, dass Armin Wolf und Tarek Leitner im wahrsten Sinne des Wortes „Anchormen“ sind, weil sie unser Anker in dem Nachrichtensturm waren. Wir haben gelernt, dass Martin Grubinger nicht nur ein wunderbarer Künstler, sondern ein „Mensch“ ist. Er hat sein Konzert, das von 1000 Menschen besucht war, solange verlängert, bis er sein Publikum außer Gefahr wähnte.

Noch ein letztes Wort. Es beginnt nämlich gleich die Sondersendung zur US-Wahl. In Neuseeland gab es vor ein paar Tagen ebenfalls einen Terroranschlag. Die Premierministerin Jacinda Ardern, die sich weigerte den Namen des Terroristen in einer Rede zu erwähnen sagte: „We in New Zealand will give him nothing, not even his name“. Völlig übereinstimmend mit dieser Haltung rief ein Augenzeuge dem Terroristen in Wien nach: „Schleich di, Du Oaschloch“. Die Verdammung in die ewige Namenlosigkeit auf Wienerisch.

Ihr Harry Bergmann


Harry Bergmann. Früher der Nachname von Demner, Merlicek & Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Weiß nach 4 Jahrzehnten ganz genau, was er alles über Werbung noch immer nicht weiß. Hobby-Schreiber. Da weiß er noch viel weniger und findet das gerade deshalb so spannend. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.


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