Was weiß man schon?

Das sozial-liberale Experiment in Wien könnte spannend werden, wir sollten offen dafür sein

Harry Bergmann
am 29.10.2020

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Alea iacta est. Die Punschkrapferln sind gefallen. SPÖ und Neos also. Oder zumindest vermutlich. Die Roten nennen es Rotpink – großes Rot, kleines pink. Die Pinken sagen lieber: „Rot und Pink“ und strahlen über das ganze Gesicht. Christoph Wiederkehr muss dafür gar nicht den Gesichtsausdruck ändern, den er schon den ganzen Wahlkampf vor sich hergetragen hat. Bei jeder Frage hatte man den Eindruck, dass er sich gerade über diese besonders gefreut hat, aber vielleicht waren es seine Antworten, die ihn selbst entzückten.

Der Bürgermeister lächelt natürlich auch. Bei ihm geht es mehr in Richtung Konfuzius. In der Ruhe liegt die Kraft. Es ist das zufriedene Lächeln eines Adoptivvaters in spe darüber, dass sein Adoptivsohn in spe die Staatsprüfung bestanden hat. Vielleicht hat das Lächeln etwas leicht Boshaftes, weil er gerade an Birgit Hebein denkt. Auch der Bürgermeister ist schließlich nur ein Mensch.

Ein kleines Detail am Rande: so ein Punschkrapferl ist ja überwiegend pink und nur oben gibt es eine kleine rote Halbkugel. Ob das eine politische Bedeutung hat, kann man schwer sagen. Was weiß man schon?

Viel Rot mit einer pinken Kirsche darauf – Wien wagt mit dem umgekehrten Punschkrapferl das nächste Experiment |  Foto: APA/ Georg Hochmuth

Egal wie, egal warum, die Twitter-Blase ist in heller Aufregung. An sich noch kein Grund zur Besorgnis, die ist immer in heller Aufregung. Aber diesmal ist es schon interessant, das Geschehen in der Manege zu verfolgen.

Da sind einmal die in der grünen Ecke, die soviel Schaum vor dem Mund haben, dass man glauben könnte, sie haben alle Plastikflaschen der Weltmeere inklusive der darin noch enthaltenen Waschmittel verschluckt. „Wie kann das sein? Wir haben doch das beste Wahlergebnis in der Geschichte eingefahren.“ Eine gebrochene Birgit „unsere Tür ist offen“ Hebein, die an Ulrike Lunacek am Wahlabend erinnert, an dem die Grünen aus dem Parlament geflogen sind. Aber Lunacek war – im Gegensatz zu Hebein – wirklich unschuldig. Sie wurde in die Lokomotive eines Zugs gestoßen, der so oder so kurz danach entgleist wäre. Sie könnten jetzt natürlich sagen, dass diese Feststellungen die gebotene Fairness vermissen lassen, denn es steht ja nirgends geschrieben, dass grünes Gedankengut einen besseren Verlierer aus einem macht. Aber was weiß man schon?

In der roten Ecke gibt es seltsamerweise nicht nur Stolz und Freude. Statt zufrieden zu sein, dass man das türkise Bashing abgewehrt und endlich ein bisschen Ruhe in die Partei gebracht hat, hyperventilieren die linken Intellektuellen, die nicht und nicht über ihren rot-grünen Schatten springen können. Diese roten Cassandras, die jetzt einen neoliberalen Coup d’Etat voraussagen, vergessen die handelnden Personen dabei. Ich finde wenig Ähnlichkeit zwischen Beate Meinl-Reisinger und Margaret Thatcher, sowohl vom Inhalt, als auch von der Empathie und erst recht von der Optik her. Stephanie Krisper ist „the last woman standing“ im Untersuchungsausschuss, der die Reste von Redlichkeit in dieser Republik, wie eine Nadel im Heuhaufen, sucht. Und Christoph Wiederkehr ist auch nicht gerade das Sinnbild eines neoliberalen Taliban.

Ich finde das sozial-liberale Experiment spannend. Das Prinzip eines Experiments ist, dass es gut ausgehen kann oder eben nicht. Aber wir würden – wie man in Wien sagt – „liab ausschaun“, wenn man allen Experimenten der Vergangenheit das Schlechteste mit auf den Weg gegeben hätte.

Ich glaube, wir alle und auch die Politik, die von uns gewählt werden will, muss eines verstehen: wir sind von allem ein bissl. Ein bissl sozialdemokratisch, ein bissl bürgerlich, ein bissl liberal und ein bissl grün. Deshalb ist eine funktionierende Koalition, im Grunde genommen, immer die bessere „Partei“, weil sie mehr von uns widerspiegelt.

Seitdem ich wählen darf, habe ich mir immer die demokratische Freiheit genommen, welchem meiner „Bissln“ ich gerade folgen soll. Ich habe Jahrzehnte lang die Sozialdemokratie gewählt. Unter anderem, weil ich sicher sein konnte, mir damit das verhasste Braun vom Leibe zu halten. Dann beschlich mich langsam das Gefühl, dass die SPÖ und die Sozialdemokratie nicht mehr unbedingt deckungsgleich sind. Ich kann und will nicht leugnen, dass sich dieses Gefühl durch Menschen wie den Gendarmen D. nachhaltig vertieft hat.

Also wählte ich bei der letzten Nationalratswahl grün, um das blau verkleidete Braun zu verhindern. Was dann folgte, war der größte Wahlbetrug, der je an mir begangen wurde. Mit jedem dreimal in sich selbst verdrehten Schachtelsatz des Herrn Vizekanzlers, mit dem er den Kanzler ohne Not hofierte und mit jedem Tête-à-Tête zwischen Sigrid Maurer und August „es ist nichts hinten rum“ Wöginger wurde mir klarer, dass ein großer Teil der Grün-Stimmen, und unter ihnen meine, verraten wurde.

Ja und so kommt es, dass einer wie ich, diesmal in Wien pink gewählt hat. Ein neues „Bissl“ von mir, sozusagen.

Ich sehe viele Gewinner. Das SPÖ-Selbstbewusstsein lernt nach langer Zeit wieder das Gefühl des Sieges kennen. Die Neos bekommen die Chance, eine Plattform für jene Bürgerlichen zu werden, denen die ÖVP viel zu weit nach rechts gerückt ist. Die ÖVP, die sich ohnehin als größten Gewinner sieht, wird vielleicht doch ein wenig darüber nachdenken, wie blass ein Spitzenkandidat sein darf. Die Grünen werden nach der Schockstarre wieder zu sich selbst und ihren Wählern finden. Aber was weiß man schon?

Wenn es keinen Lockdown gibt (was weiß man schon?) und ich in die Loge 17 komme, schreibe ich das nächste Mal über die US-Wahl oder ich kann endlich berichten, was mit dem Moria-Projekt weitergeht. Ich weiß, ich weiß: alles viel zu langsam.

Ihr Harry Bergmann


Harry Bergmann. Früher der Nachname von Demner, Merlicek & Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Weiß nach 4 Jahrzehnten ganz genau, was er alles über Werbung noch immer nicht weiß. Hobby-Schreiber. Da weiß er noch viel weniger und findet das gerade deshalb so spannend. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.


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