Die 11er Frage

Verschwörungstheoretiker gegen Angsthasen, Freiheitskämpfer gegen Obrigkeitshörige: Die gesellschaftliche Polarisierung spitzt sich unangenehm zu

Harry Bergmann
am 22.10.2020

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Wenn Sie glauben, dass die Corona-Alltagsprobleme vor der Loge 17 Halt machen, dann liegen Sie leider völlig falsch.

Gestern. Ein wunderschöner Herbsttag, und ich sitze im Schanigarten meines Büros. Ja, mein Büro hat einen Schanigarten. Wissen Sie eigentlich woher die Bezeichnung „Schanigarten“ kommt? Da gibt es so viele verschiedene Erklärungen, wie es Tische in einem durchschnittlich großen Schanigarten gibt. Mir gefällt am besten folgende: “Der Schani“ war der junge Hilfskellner, der Piccolo, der vom Ober jeden Morgen, wenn es das Wetter erlaubte, den Auftrag bekam „Schani, trag den Garten ausse!“ Dieser stellte dann brav Tische, Sessel und Blumenkistln ins Freie. Und am Abend: „Schani, trag den Garten eine“. Harte Schule, die Schanischule.

Also ich sitze da im Garten vom Schani und schau abwechselnd in den blauen Himmel, auf das sonnenbestrahlte Burgtheater auf einen, am gegenüberliegenden Tisch sitzenden, bestens gelaunten Ersten Nationalratspräsidenten, der irgendeinem Adoranten die letzte Heldentat aus der Posse „Untersuchungsausschuss“ zum Besten gibt, und auf meinen Laptop. Ich schreibe so vor mich hin, in der Hoffnung, dass daraus eines Tages eine ernstzunehmende, aber witzige Kolumne entsteht. Da setzt sich ein Mann neben mich. Ich meine buchstäblich NEBEN MICH.

Ich muss dazu sagen, dass im Schanigarten der Loge 17 die Tische vorbildlich, also mit gebührendem Abstand, aufgestellt sind. Der gute Mann setzte sich genau in das Niemandsland zwischen dem Nebentisch und mir. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, dass seine Sitzposition nicht ganz im Sinne des Erfinders sei, ging es los. „San sie a aner von denen? Dann bleibens do daham. Sie kennan mi ruhig vernadern, Sie Blockwart, Sie.“

Wird der „Maskenträger“ den „Warmduscher“ ablösen und die Gesellschaft entlang dieser Linie trennen? Foto: APA /Georg Hochmuth

„Das ist kein Amateur“, warnte mein Großhirn meinen Mund „so flüssig wie der seinen Text abspult.“ Offensichtlich ein Profi, der mehrmals am Tag trainiert. Damit Sie sich für Ihren Kolumnisten aber nicht genieren müssen, kann ich Ihnen wahrheitsgetreu berichten, dass ich ihm nichts schuldig geblieben bin. Meinen Text würde ich hier lieber nicht wiedergeben, sonst müssten Sie sich doch noch für mich genieren.

Es ging so hin und her. Ich würde sagen, nach Punkten ausgeglichen. Doch dann landete er einen „lucky punch“. Er wendete sich an seine finsteren Tischgesellen und höhnte. „Schauts eich des an. Der hat ja net amal a Büro. Die ganze Zettelwirtschaft am Tisch.“ Gröhlen im Hintergrund. Ich hätte ihm natürlich ein kurzes Impulsreferat über das papierlose Büro halten oder ihm gleich eine meiner Krücken drüberziehen können, aber der Rüpel hatte ja in diesem Punkt leider recht. Also wählte ich den ordentlichen Dienstweg und bat den Oberkellner den Quälgeist zu entfernen. Einer der wenigen wirklichen Vorteile eines Stammgasts.

Also es geht wieder los. Die Verschwörungstheoretiker gegen die Angsthasen. Die Freiheitskämpfer gegen die Obrigkeitshörigen. Der Aberwitz gegen jegliche Vernunft. Ein Experte gegen den anderen Experten. Die Regierung gegen den Rest des Landes. Bald werden die Begriffe „Maskenträger“, „Abstandhalter“ und „Händewascher“ die netten Klassifizierungen „Warmduscher“, „Beckenrandschwimmer“ und „Schattenparker“ ablösen.

Über die Sommermonate waren wir solidarisch in einer Art Rehab von der ersten Welle und in der trügerischen Hoffnung, dass eine zweite Welle nur ein Teufel ist, der von Pessimisten an die Wand gemalt wird. Wir schliefen den Schlaf und träumten den Traum derer, die sich diesen Schlaf und diesen Traum auch redlich verdient haben. Den Tiefschlaf der Bundesregierung und wohl auch den der meisten Landesregierungen nehme ich von dieser verständnisvollen Amnestie ausdrücklich aus.

Unsere Anti-Corona-Instinkte und -Automatismen stumpften ab. Und jetzt, wo wir uns fragen, ob der „leichte Lockdown“, der immer öfter über die Lippen der Politiker kommt, kein Zufall, sondern eine feige Ankündigung ist, sind wir wiedermal „nicht vorbereitet“. Das einzige, was nahtlos wieder funktioniert, ist die Bildung von Lagern, die einander feindlich gegenüberstehen.

Und jetzt gibt es diese berühmte 11er-Frage. Sie wissen ja, was eine 11er-Frage ist? Wenn nicht, beneide ich Sie um die Gnade der späten Geburt. In den Urzeiten des ORF, als dieser noch öffentlich und rechtlich war, gab es eine Quizsendung mit Namen „Quiz 21“. Zwei Kandidaten, die in jeweils eine Glaskabine gepfercht wurden, kämpften gegeneinander. Es ging darum, wer als erster 21 Punkte erreichte. Zu den Punkten kam man, indem man sich den Schwierigkeitsgrad einer Frage aus einem bestimmten Wissensgebiet aussuchte. Also 1er-Frage, 2er-Frage bis hinauf zur schwersten Frage, der 11er-Frage eben. Die ganze Familie saß vor dem Fernsehgerät, damals hieß das noch Fernsehgerät und es hieß auch Telefonapparat, und machte mit. Der größte Spaß war, wenn ein Kandidat, der gar nichts wusste, als letzte Frage eine 11er Frage nehmen musste. Man sah ihr oder ihm schon beim Vorlesen der Frage an, dass sie oder er kein einziges Wort der Frage verstand, geschweige denn eine Antwort darauf wusste. Ja, das war die 11er Frage.

Die 11er-Frage heute ist, warum die Gesellschaft selbst in einer lebens- und existenzbedrohenden Krise nicht imstande ist, ein Miteinander und schon gar nicht ein Füreinander zu leben. Zumindest bis wir die Krise durchgestanden haben.

Der stets gütige und auf Ausgleich bedachte Herr Bundespräsident, meinte einmal „So sind wir nicht.“

Doch, Herr Bundespräsident, wir sind erwiesenermaßen so. Ich war jetzt knapp dran zu sagen: „Die sind so!“. Aber dann würde ich ja genau das machen, was ich bedaure und kritisiere. Die Trennung von „wir“ und „sie“.

Das nächste Mal schreibe ich dann natürlich über die US-Wahl. Ich verspreche bis dahin nur CNN zu schauen. Und das übernächste Mal wieder über die US-Wahl. Nämlich danach. Wenn Trump gewinnt ist es eine Katastrophe. Wenn Trump verliert sorgt er für eine Katastrophe. Ich denke, es gibt in den nächsten Tagen nichts Interessanteres.

Die Kinder aus Moria: was hielten Sie davon, wenn wir Patenschaften für diese Kinder übernehmen und sie selbst „vor Ort“ bringen?

Ihr Harry Bergmann


Harry Bergmann. Früher der Nachname von Demner, Merlicek & Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Weiß nach 4 Jahrzehnten ganz genau, was er alles über Werbung noch immer nicht weiß. Hobby-Schreiber. Da weiß er noch viel weniger und findet das gerade deshalb so spannend. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.


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