Die Schublade oder ein Versuch die Gesellschaft zu verstehen

Ein wenig beachtetes Problem an Schubladen ist, dass die Unterste immer größer ist, als alle anderen

Harry Bergmann
am 19.10.2020

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Wenn es einen Teil eines Möbelstücks gibt, den man „bipolar“ nennen könnte, dann die Schublade. Einerseits ist sie so eine überkorrekte, fast reaktionäre Law-and-Order-Typin, alles muss seine Ordnung haben. Andererseits ist sie eine raffinierte Komplizin, die jedem Geheimnis, vom amourösesten bis zum dunkelsten, einen Unterschlupf bietet.

Die Schublade ist eine Erfindung der Renaissance und kam gerade rechtzeitig, um Genies wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Shakespeare oder Machiavelli gute Dienste zu leisten. Was würden wir heute dafür geben, deren Schubladen öffnen und durchstöbern zu dürfen? Viele Antworten auf ungelöste Probleme der Menschheit wären vielleicht damals schon zum Vorschein gekommen. Wer weiß, vielleicht hätten wir bei Leonardo einen Vorläufer zur Corona-Ampel gefunden, mit akribischen Anweisungen zur richtigen Farbzuordnung. Wir hätten bei einem Entwurf von Shakespeare zu einem nie aufgeführten Königsdrama eine Andeutung über Corona herauslesen können. Eine zerrissene Skizze von Michelangelo für die Decke der Sixtinische Kapelle hätte vielleicht die Klima-Zerstörung durch folgende Generationen gezeigt. Ein nie abgeschickter Brief von Machiavelli an einen Freund, in dem er unter Umständen an seiner eigenen Theorie gezweifelt hätte, dass jedes Mittel recht ist, wenn es um Machtgewinn oder Machterhalt geht. Wieviel haben Schubladen über Jahrhunderte vor uns verborgen gehalten?

Ein zu wenig beachtetes Problem an Schubladen: Die Unterste ist meist die Größte | Foto: Ahmed Erold/Unsplash

Dagegen nimmt sich die Schublade von Minister Anschober – wie soll ich sagen – kleinkariert aus. Was soll schon Großkariertes drinnen sein? Und wenn auch, dann wird das unter Umständen gar nicht so schlecht karierte zum wiederholten Male knapp vor der Ziellinie über die eigenen Füße stolpern. Anschober wird sich zerknirscht entschuldigen und der Herr Bundeskanzler und Seinesgleichen werden danebenstehen und sich den Bauch vor Lachen halten. Wenn es nach mir geht, kann er sich seine Schublade getrost an den Hut stecken. Wird super ausschauen bei der nächsten Pressekonferenz.

Aber ich bin in die Wortwörtlichkeit abgetrieben. Ich wollte eigentlich über die geistigen Schubladen nachdenken. Das In-Schubladen-Denken. Die starre Zu- und Einordnung von Ansichten, Meinungen, Vorurteilen, Stereotypen und dann, in letzter Konsequenz, von Menschen eben.

Wir leben in Schubladen. Schubladen, in die uns andere hereingelegt und fest verschlossen haben. Die Digitalisierung hat übrigens auch das beschleunigt. Kleine, feine, digitale Stauräume, in denen alles liegt, was man über eine einzelne Person wissen kann und oft genug gar nicht wissen darf, haben die Kontrolle über uns gewonnen.

Was machen all diese Schubladen mit uns? Nichts Gutes, das steht einmal fest. Sie trennen uns. Nicht fein, aber säuberlich. Und öfter, als uns lieb ist, landen wir versehentlich in einer falschen Lade. Es ist so erstaunlich einfach, da hineinzugeraten und so verdammt schwierig, wieder herauszukommen.

Was sagen diese Schubladen über uns? Herzlich wenig. Es gibt diesen Spruch „Wenn Du mich schnell in eine Schublade steckst, dann sagt das nichts über mich, aber alles über Dich.“

Besonders tückisch sind leere Laden, auf denen eine alte Beschriftung vermuten lässt, dass da noch was drinnen ist. Die Sozialdemokratie zum Beispiel. Da steht seit 100 Jahren „Arbeiter“ und „Gleichberechtigung für Benachteiligte“ drauf. Aber die Arbeiter sind schon längst ganz woanders und die Benachteiligten fallen auf Populisten und deren hohle Sprüche herein. Nach Bruno Kreisky, dessen historische Leistung darin bestanden hat, alle klemmenden Schubladen dieses Landes zu öffnen, auszuräumen und Platz für Neues zu schaffen, sucht die SPÖ nach einer zeitgemäßen Beschriftung.

Anders bei den Christlich-Sozialen. Die haben eine neue Beschriftung, sogar in einer neuen Farbe: Neue Volkspartei. Sie haben nur ihre ursprüngliche Lade links liegen gelassen und die neue immer weiter und weiter nach rechts verlegt. Ob sie alle Bürgerlichen dort wirklich finden wollen?

Eine Gesellschaft, die in Laden eingeteilt ist, bietet für „Bewegungsarme“ natürlich auch eine gewisse Bequemlichkeit. Man kennt sich aus, man weiß, wo was zu finden ist, wo was zu vermeiden ist. Die Erkenntnis „Plus ça change, plus c’est la même chose“ ist leider keine Handelsware. Sie liegt nicht zur freien Entnahme in einem Regal herum, man muss sie sich erarbeiten. Der Wille zur Veränderung hat gerade in Österreich einen starken, traditionellen Widersacher. Er heißt „des hamma immer so g‘macht“ und Widerstand ist zwar lobenswert, aber zumeist sinnlos.

Ich belästige Sie seit Wochen mit meinen Betrachtungen über die Untiefen der österreichischen Innenpolitik. Ich möchte mich an dieser Stelle endlich dafür entschuldigen, aber gleichzeitig frage ich mich, weil ich ja eh schon in der Lade „arroganter Besserwisser“ liege, wo ich mir diese Ungezogenheiten in der heutigen Kolumne hinstecken soll? Keine Angst, auch die haben ihren Platz. In der untersten Schublade.

Die Machtspielchen im Windschatten der Corona-Krise, die Hartherzigkeit in der Moria-Frage, das ständige Anpatzen der eigenen Hauptstadt, die Zulassung eines Quasi-Kriminellen zur Wien-Wahl – ich muss jetzt kurz unterbrechen, sonst vergesse ich es: standing ovations für die Wienerinnen und Wiener, dass sie die „Schande im Gemeinderat“ verhindert haben – die Nicht-Aussagen und den Nicht-Vorsitz im Ibiza-Ausschuss usw.

Diese unterste Schublade, die ohnehin immer größer war, als alle anderen, droht aus den Fugen zu geraten. Übrigens nicht nur in Österreich, sondern weltweit. Ich kann nicht sagen, dass mich das wirklich beruhigt.

Das nächste Mal schreibe ich in der Loge 17 endlich über ganz was anderes oder Sie schreiben mir auf hb@harrybergmann.com was ich schreiben soll oder ich mache eine geheime Schublade auf und erzähle Ihnen was wirklich Interessantes, ach was sage ich, was Sensationelles.

Ich habe gehört, dass die 100 Flüchtlingskinder in einem anderen, offenherzigeren Land aufgenommen wurden. Aber erstens muss das nicht stimmen und zweitens gibt es noch andere 100 Kinder dort. Also.

Ihr Harry Bergmann


Harry Bergmann. Früher der Nachname von Demner, Merlicek & Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Weiß nach 4 Jahrzehnten ganz genau, was er alles über Werbung noch immer nicht weiß. Hobby-Schreiber. Da weiß er noch viel weniger und findet das gerade deshalb so spannend. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.


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