Die blubbernde Bubble
Die Polarisierung der Gesellschaft ist kein Naturereignis, sondern beruht auf politischem Kalkül
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Wien darf nicht Istanbul werden. Wien darf nicht Chinatown werden. Wien darf nicht Little Italy werden. Für die einen darf Wien nicht Österreich, für die anderen nicht Menasse werden. Was darf Wien dann überhaupt?
Wien darf wählen! Am 11.0ktober.
Bis auf die mögliche „Schande von Wien“, dass nämlich Strache mit dem Rückenwind einer skandalösen Medienpräsenz in den Gemeinderat einzieht, ist alles mehr oder weniger entschieden. Trotzdem fliegen die Hackln tief.
„Wahlkampf halt“, könnte man sagen. Aber es geht gar nicht nur um die Wahlkämpfer, die sich zwei Wochen vor der Wahl in den Haaren liegen müssen. Es geht um die politisch interessierte und (über?)engagierte Öffentlichkeit. Oder besser: Teilöffentlichkeit.
Vielen genügt es einfach nicht im Geheimen ihre Stimme abzugeben und dann erfreut oder frustriert das Wahl-Ergebnis zur Kenntnis zu nehmen. Es findet sozusagen die freiwillige Aufgabe des Wahlgeheimnisses statt. Hemmungsloses, politisches Outing ist das Gebot der Stunde. Für politische Zurückhaltung hat man dann eh wieder vier Jahre Zeit. Eine beispiellose Lust zu debattieren, zu desavouieren, zu vereinnahmen, zu bevormunden, zu verleumden, zu denunzieren, zu attackieren zieht eine bösartige Spur durch die Stadt.
Bubbles, die weitaus hübscher anzusehen sind, als gesellschaftliche Bubbles | Foto: Marc Sendra Martorell | Unsplash
Natürlich hat die Politik das dafür nötige Klima geschaffen und das Vokabular auch gleich mitgeliefert. Man schlägt sich nicht einfach die Schädel ein, nur weil einem von einem Moment zum anderen die Nase des Anderen nicht gefällt. Die tiefen Gräben sind kein Naturereignis, sondern strategisch, Schritt für Schritt „eingeträufelte“ Absicht. Weltweit übrigens. Ein Trump, ein Bolsonaro sind nicht vom Himmel gefallen, auch wenn deren Gedankengänge und Aussagen einen ziemlich harten Aufschlag auf der Erde vermuten lassen.
Der politische Diskurs ist zu einem catch-as-catch-can Wettbewerb verkommen. Wir leben in einer Zeit der vertrottelten Polarisierung. Es gilt nur mehr das „Wenn-Du-nicht-mein-Freund-bist-dann-bist-Du-mein-Feind“-Schema. Entweder du bist eine „linke Sau“ oder ein „rechtes Schwein“.
Aus der Mitte ist ein pures Lippenbekenntnis und aus „Mitte-links“ oder „Mitte-rechts“ ein nostalgischer Etikettenschwindel geworden. Irgendjemand muss irgendwann die Mitte zum Niemandsland erklärt und die dort Angesiedelten aufgefordert haben, entweder nach Rechts oder nach Links auszuwandern. Und da in dieser Mitte nur mehr die hartgesottenen Gemäßigten (!) leben, werden dorthin auch keine politischen Messages mehr versendet. Zahlt sich nicht aus. Entweder ist der Empfänger ohnehin verzogen oder es ist dort einfach nichts mehr zu gewinnen. Schon gar keine Wahl.
Zu allem Überdruss kommt jetzt auch noch dieses polarisierende Virus dazu. Gestern stolperte ich über eine kurze Meldung, dass zwei Maskenverweigerer in der U-Bahn einen Mann verprügelten, der sie aufforderte, so wie vorgeschrieben, Masken zu tragen. Nestroy würde sagen: „Das geht ins Entsetzliche hinüber“. Die Verweigerung der Maskenpflicht und das Ignorieren der Abstandsregeln werden zum Freiheitskampf hinaufstilisiert. Che Guevara für Pandemiegeschädigte. Ausgerechnet die Extremisten von Links und Rechts – seltsame Koalition – spielen sich zu Hütern der Demokratie auf. Vielleicht ist es das Charakteristikum von Krisen, dass Gräben, die immer schon vorhanden waren, jetzt in der Radikalität der Auseinandersetzung sichtbar und im Schutz der allgemeinen Verunsicherung tiefer und tiefer gegraben werden.
Die Corona-Gräben sind zahllos, abgesehen von den Parteigräben oder – „Jetzt Neu!“ würde die Werbung schreien – dem Koalitionsgraben. Jung gegen Alt. Wirtschaft gegen Gesundheit. Branche gegen Branche. VirologE gegen Virologin. Bund gegen Länder. Medium gegen Medium. Und viele mehr.
Der Ruf nach der Politik als ordnende Hand, ist leider lächerlich geworden. Zum einen, weil sie mit dieser Situation, die sie bei jeder Gelegenheit und Ungelegenheit als „für uns völlig neu“ definiert, wirklich überfordert ist, zum anderen aber, weil sich in der Unordnung eine verführerische Gelegenheit ergibt, unerkannt Machtbestrebungen und Machtverschiebungen aller Art voranzutreiben.
Aber kurz zu einem größeren Maßstab: „Ist der Ruf einmal ruiniert, debattiert sich‘s ganz ungeniert“. Wer dazu noch irgendeinen Beweis gebraucht hat, dem ist er jüngst ins Wohnzimmer geliefert worden. Die TV-Debatte, wenn man das überhaupt so nennen kann, Trump vs. Biden. Das Chaos dort ist nicht einfach „passiert“. Es war generalstabsmäßig vorbereitet. Der ehemalige rechtsrechte Chefberater im Weißen Haus, Steve Bannon, hat das „flood the zone with shit“ genannt.
Wenn man nach der veröffentlichen Meinung geht, dann gibt es bei solchen TV-Duellen immer nur Gewinner. Jeder punktet bei seiner Klientel, dafür sorgen schon die Armeen von hoch bezahlten Spin-Doktoren. Wenn man sich aber auf seinen eigenen „Nachgeschmack“ verlässt, dann sind beide Verlierer. Biden völlig unschuldig, aber was ist in der Politik schon unschuldig.
Zurück nach Wien und zu einem gewohnten, kleineren Maßstab: der „NS-Gedankengut“-Sager des türkisen Spitzenkandidaten ist ja auch nicht „passiert“, sondern Resultat eines eiskalten Kalküls.
Zum Schluss noch einen Gedanken in meine eigene Richtung: Wenn ich meinen Text so durchlese, komme ich auf etwas drauf, worauf Sie, geschätzte Leserin und Sie, geschätzter Leser natürlich schon längst gekommen sind. Alles, was ich da geschrieben habe, ist aus einer Bubble für eine Bubble geschrieben.
Es gibt dieses Gleichnis mit dem Ameisenbau. Ich glaube es geht so: Solange die Ameise im Ameisenbau herumläuft, ist das ihr Universum. Erst wenn sie den Ameisenbau verlässt, erkennt sie, dass der Ameisenbau nur ein winziger Teil der Welt ist.
Das nächste Mal schreibe ich einen Erlebnisbericht mit dem Titel „Ich, das Spitalswesen“. Dazu muss ich aber erst aus der Narkose aufwachen.
Ihr Harry Bergmann
Harry Bergmann. Früher der Nachname von Demner, Merlicek & Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Weiß nach 4 Jahrzehnten ganz genau, was er alles über Werbung noch immer nicht weiß. Hobby-Schreiber. Da weiß er noch viel weniger und findet das gerade deshalb so spannend. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.