Die Hälfte der Wahrheit

Halbwahrheiten sind schlimmer als Lügen. Leider beherrscht die heimische Politik das Spiel mit ihnen perfekt

Harry Bergmann
am 23.09.2020

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Ich dachte an den Wahlkampf in Wien, besser gesagt an die Wahlplakate, die einem mittlerweile an jeder Ecke der Stadt anspringen. Da fiel mir ein Satz von Henry Ford ein: „Ich weiß, dass die Hälfte des Geldes, das ich für Werbung ausgebe, beim Fenster hinausgeworfen ist. Ich weiß nur nicht welche Hälfte.“ Ich musste lächeln, weil dieser Satz mit der Wien-Wahl ja wenig bis gar nichts zu tun hat. Da wird nämlich fast das ganze Geld hinausgeschmissen. Aber wie sagte schon Simone Stribl bei den ORF-Sommergesprächen, wenn sie ihrem Gegenüber zum x-ten Mal ins Wort fiel: „Darüber sprechen wir später.“

Mir ging es bei dem Satz von Ford eigentlich auch gar nicht so sehr um die Werbung, als vielmehr um die Hälfte. Die Hälfte von etwas ist nicht unbedingt etwas Unfertiges, Unvollendetes, sondern kann für sich allein genommen interessant, spannend, manchmal sogar geheimnisvoll sein.

Man fragt sich, wie die andere Hälfte ist. Ist sie besser oder schlechter? Ist sie wichtiger oder unwichtiger? Ist sie gut oder böse? Ist sie gerechter oder ungerechter?

Der Erfinder der „gerechten Hälfte“ ist König Salomon. Ich gestehe, ich musste das erste salomonische Urteil nochmals nachlesen. Zwei Frauen stritten sich um ein Neugeborenes. Beide beanspruchten es für sich. Salomons Richterspruch war, dass man das Kind mit dem Schwert halbieren solle und beide Frauen erhalten eine Hälfte. Da verzichtete die wahre Mutter und verleugnete ihr Kind, damit es am Leben bleibt.

Ich weiß, es ist nicht wirklich zulässig, aber versuchen wir das mal in die Politik zu transferieren. Zwei Politiker haben genau 50% der Stimmen gewonnen. Wenn einer der beiden auf seine 50% verzichten würde, um die Gesellschaft, also das Ganze, nicht zu spalten, dann wüsste man sofort, wem die Macht zugesprochen werden sollte. Wie gesagt, unzulässig, denn die Macht bekommt mit Sicherheit der andere.

Die Wahrheit ist unteilbar. Aber ist die Lüge teilbar? Und machen zwei Halbwahrheiten eine ganze Lüge aus? Foto: Jametlene Reskp | Unsplash, Bearbeitung: FALTER

Wenn aber einer, den eine Gruppe, die vornehmlich im Wald lebt, zu ihrem Anführer gewählt hat, dieser Gruppe in einer schwierigen Situation Mut zusprechen will, und sagt, dass er „ein Licht am Endes des Tunnels gesehen hat“, obwohl er es gar nicht gesehen hat, um dann einige Zeit später zu sagen, dass er die Gruppe gar nicht in den Tunnel hineinführen wollte und es die Schuld eines anderen sei, dass man jetzt im finsteren Schlamassel steckt, was ist das?

Diese beiden Aussagen – nennen wir sie Hälften – sind völlig widersprüchlich und dennoch ergeben sie ein Ganzes. Die Haltung und die Politik eines Anführers, der in Zeiten der Pandemie kein Anführer sein sollte.

„Wo ist das Problem?“, würde der beliebteste Politiker Österreichs fragen, der kein großer Freund des Anführers ist.

„Das Problem ist, dass Wahrheit unteilbar ist und wir, die wir sie zum beliebtesten Politiker Österreichs gemacht haben, in einer Zeit großer Verunsicherung ständig mit Halbwahrheiten konfrontiert sind. Nicht zuletzt von Ihnen.“

Fairerweise muss man ihm natürlich zugutehalten, dass er den schwierigsten und undankbarsten Job im Land hat.

Halbwahrheiten sind schlimmer als Lügen. Lügen werden früher oder später als solche erkannt. Dass der Lügner frisch und fröhlich weitermachen darf und keine Konsequenzen zu fürchten hat, ist eine andere Geschichte. Halbwahrheiten sind ein gefährliches Konstrukt. In der Chemie würde man es als ein Gemenge bezeichnen. Ein Gemenge aus Wahrheit und Lüge, in dem man, laienhaft gesagt, noch so lange herummischen kann, bis das eine vom anderen nicht mehr zu unterscheiden ist. Der Anführer, von dem ich Ihnen vorher erzählt habe, ist ein Meister solcher Gemengelagen.

In der Pandemie kennt nur das Virus selbst die Wahrheit. Die Medien überhäufen uns täglich mit neuen, sensationellen, aber nicht verifizierten, Wahrheiten. Wissenschaftler beißen sich die Zähne aus und können uns nicht mehr als „ihre“ Wahrheit anbieten. Politiker sind offensichtlich nur an der vermeintlich nützlichen Wahrheit interessiert. Unternehmer befürchten, dass die traurige Wahrheit noch vor Ihnen liegt. Jugendliche erklären die sorglose Freiheit zu ihrer Wahrheit. Wir alle haben die persönliche Freiheit als das Wahre in unserem Leben erkannt, aber eben nur so weit, wie es die Freiheit der Anderen nicht einschränkt. Das nennt man dann Solidarität und die ist übrigens auch nicht teilbar.

Wir sind alle auf die Probe gestellt und wenn wir versagen, kann das ziemlich schlimm enden. Und das ist, so fürchte ich, nur die Hälfte der Wahrheit.

Beim nächsten Mal schreibe ich vielleicht wirklich über die Wahlwerbung in Wien. Darüber, dass Herr Blümel vom Fotografen die Anweisung bekommen haben muss, so zu schauen wie sein eigenes Denkmal, dass er sich in ferner Zukunft am Rathausplatz vorstellt. Darüber, dass die Hände des Herrn Bürgermeister optisch so in den Vordergrund gestellt wurden, dass der Bürgermeister selbst gefühlt 2 Meter hinter seinen Händen steht. Darüber, dass Herr Nepp im Laufe des Wahlkampfs – „Käsekrainer first“ – möglicherweise zugenommen hat, nicht an Kompetenz, aber an Leibesfülle. Darüber, dass Herr Wiederkehr, ein fescher und eleganter Bursche, plötzlich ins breiteste Wienerisch fällt und meint, dass es “net wurscht is“ vielleicht weil es „eh scho wurscht is“. Darüber, dass die Grünen machen, was sie in letzter Zeit immer machen, herumhängen und nichts sagen. Oder ich erkläre, warum „Ein Herz für Mariahilf“ mein absolutes Lieblings-Plakat ist. Oder ich finde doch noch was wirklich Interessantes, dann kann es aber nicht die Wahlwerbung in Wien sein.

Darf ich nochmals daran erinnern, dass uns was grosses, digitales, Corona-taugliches einfallen muss, um unsere Solidarität mit den Flüchtlingskindern zu zeigen, denen unsere Regierung die Hilfe verweigert hat. Ich werde das solange schreiben, bis uns was eingefallen ist.

Ihr Harry Bergmann


Harry Bergmann. Früher der Nachname von Demner, Merlicek & Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Weiß nach 4 Jahrzehnten ganz genau, was er alles über Werbung noch immer nicht weiß. Hobby-Schreiber. Da weiß er noch viel weniger und findet das gerade deshalb so spannend. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.


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