Der Himmel über den Kelten

Oder: Warum die Zeit der Untätigkeit nun vorbei sein muss.

Harry Bergmann
am 18.09.2020

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Die Kelten hatten vor nichts Angst, außer dass ihnen „der Himmel auf den Kopf fallen könnte“. Meine Kenntnisse über die Kelten sind zwar etwas lückenhaft, zum Teil basieren sie nur auf der Lektüre von Asterix und Obelix, aber ich vermute, dass dieser Super-GAU nie eingetreten ist.

Ein Himmel, der einem nicht auf den Kopf fallen sollte. Foto: Jari Hytönen | Unsplash

Aber bei uns ist er eingetreten. Zumindest dachten wir das. Vor ziemlich genau sechs Monaten. Ein atemraubendes Virus kreiste in atemberaubender Geschwindigkeit um die Welt und zog eine Todesspur hinter sich her. Damit nicht noch mehr passiert, wurden wir am 15. März in Quarantäne geschickt. Zu Recht und gerade noch rechtzeitig. Deckel drauf und aus.

Natürlich war gar nichts aus. Im Gegenteil. Seit diesem 15. März ist Chaos angesagt. Bei einem mehr, bei einer weniger.

Ich weiß zwar ganz genau, was seitdem passiert ist, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was sich wirklich abspielt. Ich bin overnewsed und gleichzeitig underinformed.

Dieser junge, türkise Politiker hat schon recht, wenn er sagt: „Bald wird jeder jemanden kennen, der sich nicht mehr auskennt. Und meistens wird es der sein, der einem in der Früh aus dem Spiegel entgegenblickt.“

Wenn wir über diese letzten Monate sprechen, dann neigen wir dazu, sie als „verrückte Zeit“ zu bezeichnen. Und ja, es wurde viel verrückt in dieser Zeit, nicht nur die Verfassung. Bei mir hat sich vor allem die Grenze zwischen dem Greifbaren und dem Ungreifbaren verschoben. Mit dem Greifbaren kann man sich arrangieren. Mit jeder noch so sinnlosen Gesetzes-Novelle inklusive ihrer Novella. Mit jedem Bashing und Gegenbashing. Mit jedem Oster-Familientreffen, obwohl es gar nicht stattgefunden hat. Mit jeder Ampelfarbe und was sie nicht bedeutet. Mit jeder Reisewarnung und dem kleinen politischen Gifterl, das dahintersteckt.

Aber das Ungreifbare macht Angst. Wenn das Virus ständig mutiert, wie soll es dann jemals eine wirksame Impfung dagegen geben? Sind Antikörper morgen noch Antikörper? Virologie ist eine Wissenschaft, aber warum haben dann 10 Virologen 11 Meinungen? Was passiert mit meinen Kindern? Wenn ich jung bin, bekomme ich mein Leben von vor dem 15. März jemals wieder zurück? Wenn ich alt bin, was ist mein Leben überhaupt noch wert, mehr oder weniger als ein Arbeitsplatz? Das Universum des Ungreifbaren ist unendlich.

Wir müssen aber gar nicht in die unendlichen Weiten schweifen, das Ungreifbare ist nur die nächste Pressekonferenz entfernt. Irgendwas stimmt doch da nicht. Was wurde hinter verschlossenen Türen beschlossen und mit welcher Absicht? Was weiß die Politik? Was will die Politik? Was kann die Politik? Wenn uns die Politik ständig nur die halbe Wahrheit erzählt, wie wissen wir welche Hälfte stimmt? Fragen über Fragen über Fragen.

Aber plötzlich, ganz plötzlich wurde das Ungreifbare erschreckend greifbar. In all seinem Zynismus, in all seiner Niedertracht, in all seiner Menschenverachtung. Alles, was es dazu gebraucht hat, waren 100 Kinder aus Moria, die in Österreich aufgenommen werden sollten und eine kleine Gruppe von jungen Männern, die vorgestern noch selbst in der Kinderstube gesessen sind, die ihnen diese Hilfe verweigerten. Und nicht nur das. Sie begründeten ihren Entschluss mit einer derartigen Gefühlskälte, dass einem dabei die Ohren abfroren.

Plötzlich ist alles klar. Muss es jeder und jedem klar sein. Das sind nicht die Menschen, die uns repräsentieren. Das ist nicht die Moral, die uns gelehrt wurde. Das ist nicht die Welt, in der wir leben wollen. Das sind nicht die Worte, die wir im Raum stehen lassen werden. Es ist genug!

Wir haben schon alles kritisiert, was es zu kritisieren gibt. Wie haben schon alles gejammert, was es zu jammern gibt. Wir haben schon alles getwittert, was es zu twittern gibt. Wir haben schon alle Köpfe geschüttelt, die man nur schütteln kann. Wir sollten endlich was dagegen tun.

Wie wäre es mit dem, das am Abend des 23. Jänner 1993 getan wurde? Da haben sich 250.000 Menschen am Heldenplatz gefunden, die gegen das „Ausländer raus“- Volksbegehren der FPÖ demonstrierten. Ein Lichtermeer aus 250.000 Fackeln. Ein Zeichen, das niemand übersehen konnte. Ein Zeichen, das Österreich in der Nach-Waldheim-Zeit viel verlorenes Ansehen zurückbrachte. Unter den Rednern waren übrigens auch einige ÖVPler (just saying).

Die FPÖ hatte für das Volksbegehren mit über 20 Prozent Zustimmung gerechnet. Geworden sind es weit unter 10 Prozent. Große Ursache, große Wirkung. Ich weiß schon, dass das alles in Corona-Zeiten nicht möglich ist. Aber gleichzeitig hat genau diese Corona-Zeit auch so viel Großartiges im Bereich des Digitalen hervorgebracht. Es muss uns was Corona-taugliches einfallen und es wird uns was einfallen.

Natürlich können wir auch so weiterwurschteln und mit uns weiterwurschteln lassen, aber wenn wir nicht bald was unternehmen, dann wird uns zwar nicht der Himmel auf den Kopf fallen, aber vielleicht eines Tages unsere Untätigkeit.

Das nächste Mal muss ich natürlich über die Zielgerade der Wien-Wahl schreiben oder nur darüber, wie jemand der Bürgermeister einer Stadt werden will, die er verachtet und wie er dennoch das Ergebnis der letzten Wahl verdoppeln wird. Am liebsten würde ich über die Wahlwerbung aller Parteien schreiben, aber ich habe mir fest vorgenommen, über Werbung nicht mehr zu schreiben. Vielleicht finde ich ja noch was Interessantes.

Ihr Harry Bergmann


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