Ich ist der Andere

Die Identitätspolitik heimischer Politiker ist brandgefährlich und führt zu unmenschlicher Politik

Harry Bergmann
am 13.09.2020

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Ein Himmel, der einem nicht auf den Kopf fallen sollte. Foto: Jari Hytönen | Unsplash

Da gibt es diese Zeilen in Bob Dylans Song Maggie’s Farm: „Well, I try my best, to be just like I am, but everybody wants you, to be just like them.“

Stimmt. Nein, stimmt nicht! Stimmt schon lange nicht, dass alle wollen, dass Du genauso bist, wie sie. Viel zu viele wollen, dass Du der „Andere“ bist und bleibst. Der mit der anderen Hautfarbe. Der mit der anderen Nationalität. Der mit der anderen Religion. Der mit der anderen Kultur.

Wir brauchen uns ja bloß umzusehen: Die ÖVP versucht mit den niedrigsten, rassistischen Reflexen zu spielen, um in der Zielgerade der Wien-Wahl noch Stimmung und Stimmen zu machen. „Kann man tiefer als bis zu seinen eigenen türkisen Socken sinken, Herr Blümel?“. Offensichtlich kann man.

Kann man tiefer als bis zu seinen eigenen türkisen Socken sinken? Kurz und Blümel beim ÖVP-Wahlkampfauftakt, Foto: APA/Hans Punz

Frau Raab meint in ihrer kosmopolitischen Weitsicht, dass wir hier kein „Chinatown“ und kein „Little Italy“ haben wollen. Herr Hofer reagiert wie der Pawlowsche Hund auf das Stichwort und meint allen Ernstes, Chinesen und Italiener seien nicht das Problem. Herr Strache, der Geiselnehmer des letzten Funkens Anstand, darf ohne Bewährungshelfer durch die Stadt ziehen, um sich als unschuldiges Opferlamm in den Gemeinderat zu jammern.

Und dann unser Herr Außenminister. Ein Mann, dem man „das nicht zugetraut hätte“. Ein Mann, der völlig unaufgeregt erklärt, dass „man den Impuls unterdrücken muss, 13.000 Obdachlosen aus Moria zu helfen.“ Ein Mann, der genau wie sein Regierungschef es für das falsche Signal hielte, wenigstens 100 unschuldige Kinder aufzunehmen. Ein Mann, der vorgibt, das große Bild zu sehen, aber blind ist für die Not des Nächsten.

Es gibt in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem einen Raum, in dem „Die Gerechten“ gewürdigt werden. Das sind Menschen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Juden im Krieg zu retten. Sie konnten den Holocaust nicht verhindern, aber sie taten, was in ihrer Macht stand, Herr Außenminister!

Wann sind die anderen „die anderen“ geworden? Wann sind die wunderbaren Schmelztiegel und Melting Pots dieser Welt von einer Inspiration zu einer Illusion verkommen? Wann und wo ist das Lichtermeer im Mittelmeer versunken? Wann sind alle Mauern, die schon gefallen waren durch neue oder unsichtbare ersetzt worden?

Wo ist der Anfang von all dem? Der Anfang ist dort, wo die Frage nach der eigenen Identität auftaucht. Wer bin ich? Eine Frage mit vielen Antworten. Denn ich bin nicht Eins. Ich bin Vieles, auch Widersprüchliches. Arthur Rimbaud sagt: „Ich ist ein Anderer“.

Wer diese Erkenntnis hat, der hat auch kein Problem mit der Vielfalt der Welt, mit der Vielfalt der Rassen, mit der Vielfalt der Religionen und Kulturen. Mit den anderen. Gefährlich sind aber die, die glauben eine endgültige Antwort gefunden zu haben, wer sie sind. „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält“ , sagte Max Frisch. Aber die Geschichte darf nicht einzementiert werden, sie hat in Wahrheit nie ein Ende. Man erfindet sich ständig neu, wenn man dazu bereit ist.

Und noch gefährlicher sind die, die aus politischem, wirtschaftlichem, religiösem Kalkül eine kollektive Identität konstruieren und sie über eine Gruppe drüberstülpen. Das Problem des Antisemitismus ist nicht das Problem des leidtragenden Juden. Es gibt Antisemitismus ohne Juden. Das Problem ist die Identitätsschwäche des Antisemiten. Politische Macht macht sich immer an diese Identitätsschwachen heran, gibt ihnen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich dann in Rassismus, nationalem Hass oder eben Judenhass entlädt.

Der Prozess ist so einfach. Man denkt sich ein Stereotyp des Anderen aus, so absurd es auch sein mag. Man wiederholt es immer und immer wieder, bis es auch der Dümmste geschnallt hat und fertig ist der Feind. So werden Andersgedachte zu Andersgemachten. So weit, so schlecht.

Es gibt eine wunderschöne Parabel dazu. Den französischen Filmklassiker „Der Krieg der Knöpfe“. Die Rahmenhandlung des Films ist der ewig andauernde Kampf von zwei Kinderbanden, die aus verkrachten Nachbardörfern stammen. Den „Gefangenen“ werden die Knöpfe abgeschnitten, damit sie zuhause von den Eltern eine Tracht Prügel kassieren. Der Film spielt im Jahre 1944 und der Krieg ist in Südfrankreich angekommen. In dem einen Dorf lebt Miryam. Sie ist Jüdin und daher in Lebensgefahr. Die zwei Dörfer erkennen, dass sie sich verbünden müssen, um den eigentlichen Feind zu bekämpfen und Miryam zu retten. Nur ein Film? Vielleicht. Vorbild? Allemal.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind die 100 Kinder aus Lesbos vielleicht schon in Österreich eingetroffen. Oder soll man ihnen nicht besser wünschen, dass sie in einem Land aufgenommen werden, das sich ehrlich freut helfen zu dürfen?

So oder so, die Erbärmlichkeit der letzten Tage bleibt.

Das nächste Mal schreib ich überhaupt nur dann, wenn ich diese Regierung an etwas erinnern darf, das viele viele Jahre zurückliegt. Es ist ein Plakat, das die „Aktion Mitmensch“ affichiert hatte. Es zeigt einen kleinen Buben, der zu einem erwachsenen Mann aufschaut und sagt: “I haaß Kolaric, Du haaßt Kolaric, warum sogns zu Dir Tschusch?“ Das wäre doch ausnahmsweise was wirklich Interessantes.

Ihr Harry Bergmann


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