Der junge Mann, die junge Frau und ihr Eigentum

Nachdenken über das Hirn und den Frontallappen des jungen Mannes im Bundeskanzleramt

Harry Bergmann
am 27.07.2020

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Ich sitze in der Loge 17 und grüble. Grübeln ist irgendwo zwischen Nachdenken und Kopfzerbrechen. Mehr bei Kopfzerbrechen. Ich mache das schon seit Tagen. Die Ober in meinem „Büro“ sehen es mir offensichtlich an. Kein „Noch eine Melange mit laktosefreier Milch, Herr Doktor?“ oder „Wir haben noch ein letztes Brioche gefunden, Herr Professor!“ stören die In-Mich-Gekehrtheit.

Worüber ich mir das Hirn zermartere ist – ironischerweise – das Hirn. Ja, das Hirn. Der im Kopf gelegene Teil des zentralen Nervensystems.

Sollten Sie an dieser Stelle schon aussteigen wollen, kann ich das verstehen und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Dennoch empfehle ich Ihnen weiterzulesen. Es ist zwar stellenweise langatmig, aber doch wissenswert. Ich musste es mir in langen Stunden anlesen, Sie bekommen es hier übersichtlich zusammengefasst.

Ich interessiere mich nicht für das gesamte Hirn, sondern nur für den sogenannten Frontallappen. Da sitzen das Sprachzentrum, aber auch die Persönlichkeit und das Sozialverhalten. Im Frontallappen wiederum befindet sich das Broca-Areal, das für das Finden von Worten und das Bilden von Sätzen zuständig ist.

Ich grüble nämlich über diesen mittlerweile berühmten Satz, der ja wirklich begrübelnswert ist. „ABER SIE HABEN JA EIN EIGENES HIRN!“

Dieses Hirn-Modell aus dem frühen 20. Jhd hat nichts mit den hier besprochenen Hirnen zu tun Foto: David Matos | Unsplash

Der Satz an sich ist ja ziemlich nichtssagend. Jeder Mensch hat ein eigenes Hirn! Oder haben Sie schon einmal davon gehört, dass sich zwei oder mehrere Personen ein Hirn geteilt hätten? Oder, dass eine Person das Hirn von mehreren anderen mit sich herumträgt? Na also.

Interessanter wird es, wenn wir einzelne Worte des Satzes beleuchten. Zum Beispiel die juristische Bedeutung von „EIGENES“. Es geht um Eigentum. Eigentum ist eine Sache (beweglich oder unbeweglich), über die jemand die Verfügungs- und Nutzungsgewalt hat, aber nicht unbedingt die tatsächliche Herrschaft.

Ist es nicht verblüffend, was alles in dieser Betrachtung drinnen steckt? Wie beweglich oder unbeweglich ein Hirn ist. Wie gut man die Fähigkeiten seines Hirns nutzt. Inwieweit man tatsächlich die Herrschaft über sein eigenes Hirn hat. Wie lange man sich also beherrschen kann? Oder was passieren muss, damit man die Beherrschung verliert. Merken Sie, wie sich langsam alles zusammenfügt? Worte, Sätze, Persönlichkeit, Sozialverhalten.

Hirnforschung at its best.

Wir nähern uns dem Höhepunkt. Und der ist natürlich die Person, der dieser Satz entfahren ist. Ich glaube, „entfahren“ ist das richtige Wort. Es markiert genau den Punkt, an dem man die Beherrschung über die Sprache verliert, auch wenn man sie sich noch so gut antrainiert hat.

Was wollte diese Person, ein junger Mann, der anderen Person, einer jungen Frau, eigentlich sagen?

Dass eine Journalistin (ja, die junge Frau ist eine Journalistin und eine gute noch dazu) nicht ein anderes, sehr seriöses Medium zitieren darf? Wohl kaum.

Oder wollte der Jüngling seine freudige Überraschung zum Ausdruck bringen? „Ah, Sie haben ja ein tolles eigenes Hirn!“ Auch nicht.

Der junge Mann hat – meiner bescheidenen Meinung nach – gar nicht das Hirn gemeint. Er wollte ihr, in Rage gekommen, vorwerfen, dass sie keine eigene Meinung hat.

Also erstens stimmt das nicht, zweitens sagt man das einer jungen Dame nicht, drittens schon gar nicht einer Journalistin, die gerade ein gutes Interview führt und – last but not least – nicht vor laufender Kamera.

Der junge Mann ist ja ein echter Frontallappen!

Und jetzt halten Sie sich an: dieser Frontallappen sitzt doch tatsächlich im Ministerrat. Und wie ich gehört habe, macht er dort einen auf Chef und hat schwer was dagegen, dass andere, die auch im Ministerrat sitzen, ein eigenes Hirn, also eine eigene Meinung haben.

Böse Zungen sagen, dass diese anderen nach ihrem Broca Areal (Sie erinnern sich: dort, wo im Gehirn eigene Worte gefunden und eigene Sätze gebildet werden) ausgesucht wurden.

Als wäre das alles nicht schon genug, hat ausgerechnet der, der das Wort Hirn in beleidigender Absicht verwendet hat, selbst – wie soll ich sagen – ein Thema. Seine Intelligenz, sein taktisches Talent, seine Fähigkeit, andere zu umgarnen und zu begeistern sind phänomenal, aber sein Temporallappen dürfte was haben. Dort sitzt das Gedächtnis.

Unlängst musste er einigen, die sonst im Parlament sitzen, Rede und Antwort stehen. Rede ging gut, Antwort weniger. Er konnte sich insgesamt 29-mal nicht erinnern. Temporallappen-Desaster! Dass einer seiner Kollegen sich 86-mal nicht erinnern konnte und sogar vergessen hatte, ob er einen Laptop besitzt, macht es nur relativ besser.

Aber Sie wissen ja, wir hätten diesen Hirn-Satz nie zu hören bekommen sollen. Das Amt, in dem der junge Mann seinen Arbeitsplatz hat, rief beim Arbeitgeber der Journalistin an und sagte, dass ihm – dem Amt – dieser Teil des Interviews gut gefällt, aber eben nicht so gut, wie andere Teile. Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht, je nachdem, wem man glaubt.

Ich möchte gar nicht wissen, warum der Arbeitgeber der jungen Frau diesen Teil, der nicht ganz so gut gefallen hat, schleunigst entfernt hat und uns damit vorenthalten wollte. Da müsste ich ja glatt wieder zum Grübeln anfangen.

Das nächste Mal werde ich versuchen weniger zu schwadronieren und schreibe über die Vorboten der Wien-Wahl, oder wie wir lernen werden, auf der 2. Welle zu surfen oder über etwas wirklich Interessantes.

Ihr Harry Bergmann.  


Harry Bergmann. Früher der Nachname von Demner, Merlicek & Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Weiß nach 4 Jahrzehnten ganz genau, was er alles über Werbung noch immer nicht weiß. Hobby-Schreiber. Da weiß er noch viel weniger und findet das gerade deshalb so spannend. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.

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