Das Essen der Anderen

FLORIAN HOLZER | 22.01.2017

Ich mag Stiegenhäuser. Ich mag genau diese subtile Mischung aus Öffentlichkeit und Privatheit, die ein Stiegenhaus darstellt. Freude und Begeisterung der Nachbarn, die nicht zwangsläufig hinter der Wohnungstüre zurückbleiben, Trauer, Wut und Verzweiflung aber halt auch nicht. Oder Gerüche, etwa wenn den Franzosen oben im Dachboden-Ausbau der Weihnachtsbaum abbrennt und die Feuerwehrmänner in voller Montur und mit schwerem Geschläuch in den sechsten Stock hetzen. Die Mischung aus verkohlter Tanne, geschmortem Fernseher und Löschmittel hing noch lang im Hausflur.

Und besonders interessant: Was kochen die Nachbarn – ein Stiegenhaus-Geruchsratespiel. Das Haus, in dem ich wohne, wurde 1886 gebaut und Küchen hatten zu dieser Zeit ein vergittertes Gangfenster. Warum das so war, hab ich nie so ganz verstanden, entweder aus Entlüftungsgründen, was zwar nachvollziehbar aber halt auch ein bisschen asozial wäre; oder vielleicht, um notfalls schneller das Wasser aus der Bassena in die Küche zu bekommen, falls das Gulasch anzubrennen droht. Aber durch die vergitterten Fenster …? Oder vielleicht allein aus kommunikativen Gründen, damit man beim Vorbeigehen sagen kann, „oh, das riecht heut aber wieder großartig, Frau Nemecek, bei Linsen mit Speck kann Ihnen einfach niemand das Wasser reichen“.

Es riecht natürlich nicht immer großartig. Aber es ist interessant festzustellen, was die Leute kochen. Irgendwer kocht am Sonntag tatsächlich immer Brathendl mit Erdäpfelsalat oder Schweinsbraten. Ich hätte es mir nicht gedacht, dass man Erdäpfelsalat, gefiltert durch mindestens eine Wohnungstüre, so deutlich erkennen kann. Kann man aber. Schweinsbraten ist leicht zu erkennen, Gulasch auch, Schnitzel auch ist auch relativ leicht, wird in der Wahrnehmung aber natürlich noch einmal durch das Klopfen davor bestätigt.

Unter mir wohnt eine ursprünglich aus dem Iran stammende Familie, dass man deren Küche im Stiegenhaus nie riecht, bedaure ich ein bisschen, auch die Bewohner des Dachbodenausbaus – hauptsächlich Diplomaten oder Manager, die hier kaum länger als ein Jahr wohnen – kann man nie riechen, bedauerlich, das wäre wahrscheinlich mal was Anderes als immer nur Hendl, Schweinsbraten und Schnitzel.

Und was dann schon immer wieder verwundert: Es wird tatsächlich noch Kohl gekocht. Also „Köh’ch“, wie der Wiener sagt, eine Zubereitungsart, die diesem grandiosen, vielseitigen wie vielfältigen Gemüse offenbar unvermeidbar einen Geruch von Kanal und Flatulenz abringt, der über Jahrhunderte hinweg typische Wiener Stiegenhaus-Geruch. Hätte ja gedacht, dass der Köh’ch ausgestorben ist, ist er aber nicht, irgendwer im Haus kocht ihn noch. Wahrscheinlich nur der Tradition zuliebe, damit das Stiegenhaus stinkt, wie es auch schon vor hundert Jahren stank.