Gelöst: Das Geheimnis des Tomatensaftes

FLORIAN HOLZER | 24.06.2014

Es geht um Rituale. Rituale sind super, vor allem in Situationen voller Anspannung und Stress, und die Abreise mit einem Flugzeug kann man als solche ja ohne weiteres bezeichnen: Check-in-Zeit nicht versäumen; Drängerei beim Check-in aushalten; papierenen Ausdruck des online gebuchten Tickets trotzdem mithaben; das gute und teure Laguiole-Messer rechtzeitig aus der Tasche entfernen; blöde Fragen beantworten, wer den Koffer gepackt hat und ob wer anderer als man selbst Zugriff zum gepackten Koffer hatte; keine blöden Antworten auf blöde Fragen geben; sich mit der Tatsache abfinden, dass man kein Mensch ist, sondern eine zu befördernde Personeneinheit, eine anonyme PAX. Und wo, verdammt noch einmal, hab ich den Pass?

IMG_2415

Und das war nur der bodennahe Stress. Dann im engen Stahl-Zylinder sitzen, hoffen, dass niemand neben/vor/hinter einem sitzt, der stinkt/rülpst/furzt/schreit/schnarcht/spricht oder anderweitige Verhaltensauffälligkeiten an den Tag legt. Ganz schlimm. Stress pur. Wir reden uns natürlich ein, dass wir abgebrüht sind und unserem überdimensionalen CO2-Fußabdruck zumindest verdanken, vor all diesen möglichen Katastrophen nicht mehr in Panik verfallen zu müssen. Aber das ist – sind wir uns ehrlich – reine Autosuggestion.

Egal, es gibt ein Mittel. Oder mehrere. Eines ist das Ritual des Tomatensaftes. Tatsächlich existiert kein einziger physiologisch erklärbarer Grund, warum man im Flugzeug Tomatensaft trinken soll. Weder nimmt die rote Pampe Flugangst, noch beruhigt sie den Magen, noch mindert sie die Klaustrophobie, noch fördert sie die Durchblutung der Beine. Alles nicht. Der Flugzeug-Tomatensaft ist einfach ein Ritual, das einzig und allein dazu da ist, das wir uns daran klammern können, dass wir hier in dieser Metall-Röhre, die aus logisch nur schwer nachvollziehbaren aerodynamischen Gründen durch die Luft fliegt, Dinge tun, die wir am Boden sonst nie machen würden. Etwa Tomatenjuice mit künstlichem Selleriesalz würzen, umrühren und trinken. Aber es beschäftigt einen mit etwas Geschick fast 17 Minuten. Ob das irgendwann mal zu genau dem Zweck von Howard Hughes erdacht wurde oder sich im Lauf der Flug-Folter zufällig entwickelte, ist nicht zu beantworten. Aber das Prinzip der rituellen Ablenkung funktioniert jedenfalls weltweit.

IMG_2416

Und genau darum geht’s ja auch beim Flugzeug-Essen. Das ja leider kaum mehr angeboten wird. Das früher sogar bei einem 45 Minuten-Flug auf die Klapp-Tischchen gestellt wurde, wunderbar ungenießbar heiß und geheimnisvoll Raum-optimiert. Alles wegrationalisiert, heute kriegt man ein labbriges Weckerl, dessentwegen wir normalerweise auf die Barrikaden klettern würden, wenn wir sicheren Boden unter den Füßen hätten. An Bord nicht, da sind wir demütig und dankbar für die Ablenkung, für die Möglichkeit, irgendwas zu kauen. Ein unwürdiger Zustand. Und wir denken uns: Wie gern hätte ich jetzt diesen grauslichen Majonnaise-Salat und dieses Hühnerragout in schlabbriger Sauce, das wir früher, als wir’s noch bekamen, so verhöhnt haben.

Das nächste Mal: „Chickenorbeef“ – eine Ode ans Flugzeugessen