Die Macht des vermiedenen Rampenlichts. Eine Parabel.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 1011

Armin Thurnher
am 13.05.2023

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Vor zwei Wochen starb in Purkersdorf bei Wien einer der weltweit bedeutendsten Historiker. Er lebte seit Jahren hier, ohne dass eine Zeitung oder ein Medium von ihm Notiz nahm. Mit zwei Ausnahmen, wir kommen noch zur ersten. Der Bürgermeister von Purkersdorf gratulierte dem Jubilar etwas voreilig zum 100. Geburtstag, denn dieser starb wenige Tage nach der Gratulation, aber noch vor dem Erreichen dieses Jubeltags, am 28. April; so kam es zur zweiten medialen Erscheinung unseres Mannes, im Bezirksblatt.

Bezirkblätter Nö, März 2023

Sein Name wird allenfalls bei professionellen Historikern ein „Aha“ provozieren; immerhin unterrichtete Ranajit Guha, geboren am 23. Mai 1923 im heutigen Bangladesch, als Gastprofessor seit 2001 am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien.

Eine „graue Eminenz der Zeitgeschichte“ nennt ihn der an der kalifornischen UCLA lehrende Kollege Sanjay Subrahmanyam in seinem Nachruf in Sidecar, dem Blog des New Left Review.


Es ist merkwürdig, dass bedeutende Menschen in der Nähe wohnen, die man selbst überhaupt nicht wahrnimmt. Im Falter arbeitete jahrzehntelang ein persischer Prinz und Marxist im Expedit, von dem Kolleginnen und Kollegen höchstens das zweite wussten; vorgestern zeigte ein Abschiedsabend für den Philosophen Burghart Schmidt wieder, dass dieser deutlich unter seiner Bedeutung wahrgenommen wurde, auch wenn man glaubte, ihn ganz gut zu kennen.

Jedenfalls zahlt es sich aus, seine Mitmenschen auf dem Gehsteig und in der U-Bahn so zu betrachten und zu behandeln, als wären sie uns unbekannte Genies von weltweiter Bedeutung. Wie eben Ranajit Guha. Das einzige Blatt, das ihn gebührend zur Kenntnis nahm, war eines, das es dank des weisen Ratschlusses unsere schwürkis-grünen Medienguruetten demnächst nicht mehr gibt, nämlich die Wiener Zeitung.

Ranajit Guha mit seiner Frau Mechthild im Jahr 2008. Foto: Wiener Zeitung

Zum 90. Geburtstag von Ranajit Guha verfasste dort (im Extra vom 18./19. 5. 2013) Nikolais Halmer eine würdigende Vorstellung, die so begann: „,Das ganze Land erbebt / Vom Schmerz all jener / die gepeinigt von den Grundherrn, in Not und Elend leben / Kommt, greift euch Äxte, Pfeil und Bogen / Lieber den Tod erleiden als so weiter leben!‘ Dieses Lied findet sich im Roman „Aufstand im Mundaland“ der indischen Autorin Mahasweta Devi, in dem sie den Aufstand der Mundas, die zur Urbevölkerung Indiens zählen, gegen die britische Kolonialherrschaft beschreibt. Diese literarische Schilderung einer Rebellion skizziert den Grundgedanken einer Gruppe von indischen Historikern, die ihre Arbeiten unter dem Sammelbegriff Subaltern Studies veröffentlichte. Ihre Intention bestand darin, eine Geschichte derjenigen zu schreiben, von denen in offiziellen Dokumenten zwar die Rede ist, aber deren eigene Stimme durch den Filter der dominanten Gruppen verzerrt wird. Ranajit Guha, einer der international bedeutendsten Historiker der Gegenwart und Begründer der ,Subaltern Studies‘, formulierte dies folgendermaßen: ,Die Stimme, lange unbeachtet von denen, die in der zugemauerten Stadt institutioneller Politik und akademischer Wissenschaft lebten, schallte heraus aus den Tiefen einer autonomen Parallelwelt‘.«

Guha begann naturgemäß als Marxist, war scharfer Kritiker Gandhis und dessen Nationalismus, wandte sich nach 1956 von der prosowjetischen kommunistischen Partei Indiens ab, sympathisierte aber dann mit deren ursprünglich maoistischen Abspaltung, der CPI(M), weil diese den Kampf der indigenen Völker, der sogenannten Naxaliten unterstützte. Später versuchte Guha, wie Subrahmanyan kritisch bemerkt, eine nicht immer geglückte Synthese von Heidegger und Gramsci (Subalterne Studien ist ein Begriff aus Gramscis Gefängnisheften).


Aber: „Am Ende des Jahrzehnts (der 1980er Jahre)  und nach der Veröffentlichung von sechs Bänden unter Guhas Leitung hatten sich die Subaltern Studies als dominierende Kraft in der Erforschung der modernen indischen Geschichte etabliert.“ Allerdings verlief sich die Unternehmung, konstatiert Subrahmanyan, und „nach Erscheinen des 12. Bandes 2005 hatte das Projekt weitgehend seine Form verloren und sich in eine fruchtlose Auseinandersetzung mit dem Dekonstruktivismus einerseits und dem kulturellen Essentialismus andererseits verstrickt.“

Dennoch gilt für die Wirkung dieses mir bis dato unbekannten Mannes ganz offenbar jenes Fazit, das Subrahmanyan zieht: „Die ,biografische Illusion‘, wie Pierre Bourdieu sie nannte, erfordert vielleicht eine sauberere Form der Darstellung, als sie uns dieses Leben bietet. Und das, obwohl wir es mit einem Menschen zu tun haben, der nicht auf Karriere und Karrierismus aus war, sondern auf eine komplexere Form der charismatischen Selbstdarstellung, bei der Guha das Rampenlicht weitgehend mied und es einigen seiner jüngeren Schüler überließ. Vielleicht konnte er die klandestinen Gewohnheiten seiner frühen Erwachsenenjahre nur schwer abschütteln. Dennoch gelang es Guha, an den Rändern der akademischen Welt einen größeren Einfluss auszuüben als viele derjenigen, die die großen Posten der akademischen Macht besetzten.“

Es leben die Randfiguren, selbst wenn sie am Stadtrand von Wien leben!


Im Übrigen bin ich der Meinung, man muss die Wiener Zeitung vor der Regierung retten.


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Was wir aus der Pandemie gelernt haben könnten: Distanz kann nicht schaden, halten Sie Ihre Impfungen up to date, Händewaschen ist nie falsch, benützen Sie Masken, wenn es sich empfiehlt, und bleiben Sie rücksichtsvoll. Ihr Armin Thurnher

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