Kälber, Küren, Kanzler und die Welt von gestern.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 1009

Armin Thurnher
am 11.05.2023

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Kälber. Foto: Wikipedia

Gestern machte die Seuchenkolumne eine Pause. Leserinnen und Leser fragten besorgt nach. Ich fühle mich mäßig schuldig. Beim 1000er hatte ich angekündigt, die Kolumne werde nun etwas leiser treten. Damit war offenbar gemeint, sie werde fortan nicht täglich erscheinen. Können. Ich bin allerdings noch unschlüssig, ob ich einen regelmäßig reduzierten Rhythmus oder spontane Reduktion wählen soll. Gefühlsmäßig neige ich der spontanen Reduktion zu.


Gestern hatte ich Besuch von alten Freunden aus Bregenz, sieben Mitmaturanten besuchten mich auf dem Lande, es war sehr schön und sehr intensiv, wir hatten lange Gespräche, tranken Wein und aßen gute Sachen, etwa eine gefüllte Kalbsbrust, von einem verwandten Koch genial zubereitet, dem Sepp, Mann meiner Schwägerin.

Ich wollte bei den Vorbereitungen in der Küche mitarbeiten, was mir kaum gelang. Er war immer schon fertig. Amateure sind langsamer. Als ich nach langem Suchen die Spicknadel gefunden hatte, mit der ich in früheren Zeiten eine Kalbsbrust oder auch ein gefülltes Huhn zuzunähen pflegte, hatte er die Brust auf ihrem Gemüsebeet bereits ins Rohr geschoben. Ich habe sie nicht zugenäht, sagte er vergnügt, und siehe, die Fülle quoll nicht heraus und verhielt sich vollkommen brusttreu, was mir nie gelungen wäre.

Beim allgemeinen Personalmangel, Kulturverfall und Verarmung inmitten von Reichtum und Überfluss scheint mir das Verschwinden der gefüllten Kalbsbrust besonders beklagenswert. Kaum Fleischhauer – wenn es sie noch gibt – bieten dieses Stück Fleisch an, schon gar nicht, wie der Fachmann sagt, „untergriffen“; auch in unserem Fall musste der tüchtige Koch den Schnitt selbst vornehmen.

Man schneidet nur sehr vorsichtig, weil man keinesfalls ein zweites Loch in der Brust verursachen will – dort würde die Fülle auf jeden Fall austreten. Gefüllte Kalbsrust mit grünem Salat und Reis, das ist Österreich. Das ist auch Welt von gestern.


Auch die Sozialdemokratie ist Österreich, und auch sie gerät in den Verdacht, mit ihr ziehe nicht mehr die neue Zeit, vielmehr verschwinde sie wie die gefüllte Kalbsbrust in die Welt von gestern. Sie verdrießt es selbst einem wohlwollenden Beobachter doch recht systematisch. Nach der Kür der oder des neuen oder alten Vorsitzenden zählt sie die 140.000 Stimmen ganze zwei Wochen lang aus. Man versteht schon, Korrektheit geht vor, man möchte keine Anfechtung dieser Wahl, die geschäftsführerseits noch immer als Stimmungstest betrachtet wird. Aber zwei Wochen? Die Wartezeit auf das Ergebnis verbessert die Stimmung gewiss beträchtlich. Aber der Eindruck bleibt, dass der erwünschte Effekt offenbar vor allem in der Hoffnung besteht, die Öffentlichkeit möge die ganze Sache so schnell wie möglich vergessen. Damit man endlich „mit den Themen durchdringt, die den Menschen unter den Nägeln brennen“ oder so. Mir scheint, da muss jemand Politik neu lernen. Die Epoche der aufgelegten Elfmeter wird zu Ende gehen, ein Schwachmatiker wie Kickl spielt sich als Wahlsieger auf und die Sozialdemokratie zählt interne Stimmen in alle Ewigkeit.


Bundeskanzler Nehammer, auch so ein österreichisches Oxymoron (wegen meines Besuchs fallen mir griechische Begriffe leicht ein, hatten wir doch acht Jahre Latein und sechs Jahre Griechisch), hat mit den Grünen wieder einmal ein Paket geschnürt. Paketbote Nehammer also sagte, die Regierung unternehme jetzt alles gegen die Teuerung, werde scharf beobachten, ob die Maßnahmen greifen und notfalls wieder Maßnahmen setzen, bis diese endlich Wirkung zeigen. Das wäre normalerweise eine pragmatische Beschreibung von Politik, und doch kann man sich des Eindrucks von Hilflosigkeit nicht erwehren, wenn Nehammer so etwas sagt. Seine Marktgläubigkeit glaubt man ihm ebenso wenig wie die Idee, dass „der Markt“ pariert, wenn der Kanzler spielerisch drohend den Finger hebt. Es klingt irgendwie nach Seepocken.


Bei unseren Gesprächen vermieden wir politische Themen nicht ängstlich, aber die gemeinsame schulische Vergangenheit wollte besprochen sein und schob allfällige inhaltliche Differenzen in den Hintergrund. Wenngleich ich ziemlich sicher bin, dass einige der alten Kollegen der ÖVP nahstehen, gab es keinen Widerspruch bei der Feststellung, Energie sei ein öffentliches Gut und kein Spekulationsobjekt oder eine an Börsen zu handelnde Ware. Die Regierung sollte einmal darüber nachdenken, was das bedeuten könnte. Vielleicht bei einer gefüllten Kalbsbrust.


Im Übrigen bin ich der Meinung, man muss die Wiener Zeitung vor der Regierung retten.


Er ist die beste Wochenzeitung des Landes. Der Falter. Lesen Sie ihn. Unterstützen Sie sich und ihn mit einem Abonnement.


Was wir aus der Pandemie gelernt haben könnten: Distanz kann nicht schaden, halten Sie Ihre Impfungen up to date, Händewaschen ist nie falsch, benützen Sie Masken, wenn es sich empfiehlt, und bleiben Sie rücksichtsvoll. Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!