Aus der Pandemie lernen: statt Hybris demokratische Bescheidenheit!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 998

Armin Thurnher
am 26.04.2023

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Statt einer Einleitung nur ein Zitat aus diesem sehr feinen Übersichtstext, in dem Epidemiologe Robert Zangerle die Thesen des US-Seuchenpapstes Tony Fauci zusammenfasst und kommentiert: Fehlinformationen und Desinformationen sind der Feind der öffentlichen Gesundheit und der Pandemiebekämpfung. (…) Es gibt keine einfache Lösung, um dieser beunruhigenden Welle von Fehlinformationen und Desinformationen entgegenzuwirken, außer dass wir alle weiterhin wissenschafts- und evidenzbasierte Informationen ebenso aktiv verbreiten wie diejenigen, die das Gegenteil verbreiten.“ A. T.

»Die Covid-Pandemie hat die Erwartungen der Welt auf Schritt und Tritt enttäuscht. Sie begann mit einer Überraschung, setzte sich im Chaos fort und entwickelte sich zu Verschwörungstheorien. Aus politischer Sicht hat sie unsere Vorstellungen von Ordnung und Kontrolle im Vorfeld der Pandemie Lügen gestraft. Schließlich hatten Gesundheitsexperten schon seit Jahrzehnten vor einem Ausbruch gewarnt. Doch trotz seiner herausragenden Stellung unter den großen globalen Herausforderungen hat er Österreich und viele andere noch immer auf dem falschen Fuß erwischt. Zahlreiche Länder schienen unmittelbar vor der Covid Pandemie bezüglich Pandemie-Bereitschaft anhand technokratischer Kriterien sehr gut aufgestellt. Dann aber kam Covid, und zwei Länder, die besonders gut aufgestellt schienen, haben die Pandemie schlecht bewältigt: Großbritannien und USA. Pandemie-Bereitschaft“ („Preparedness“) wird die nächste Pandemie also nicht aufhalten. Statt technokratischer Hybris brauchen wir robuste neue Formen demokratischer Bescheidenheit.

Man kann aber aus der Pandemie sehr wohl Lehren ziehen, nicht nur für neue Viren, sondern auch für den Umgang mit altbekannten Krankheiten. Nicht wenige haben Lehren gezogen, auch in den Medien, aber abgesehen von dezidierten Wissenschaftsjournalisten habe ich zum Beispiel mir das gar nicht zugemutet, sondern bin vertrauten und für mich ausgetrampelten Pfaden gefolgt. Konkret habe ich mir einen rezenten Vortrag von Toni Fauci, dem öffentlichen Gesicht der Wissenschaft in den USA angeschaut. Wenn Tony Fauci einen Übersichtsvortrag hält, kann man sich seit Jahrzehnten darauf verlassen, dass der bald in gedruckter Form erscheinen wird. So auch dieses Mal. Gemeinsam mit Gregory Folkers, dem ehemaligen leitenden Mitarbeiter des National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) veröffentlichte Fauci den Artikel Pandemic Preparedness and Response: Lessons from COVID-19 in der Rubrik „Perspektiven“ im Journal of Infectious Diseases. Hier folgt eine an einigen Stellen von mir ergänzte Mischung aus Inhalten des Vortrages und des Artikels.

Angesichts der enormen Auswirkungen dieser Pandemie auf praktisch jeden Aspekt der globalen Gesellschaft ist es wichtig, über die Lektionen nachzudenken, die in den letzten drei Jahren gelernt wurden oder gelernt hätten werden sollen. Obwohl Dutzende von Lektionen angesprochen werden könnten, hat Tony Fauci zehn ausgewählt, die in der folgenden Tabelle aufgelistet sind:

Die erste Lektion passt auf jeden neu auftretenden infektiösen Erreger mit Pandemiepotenzial: Erwarte das Unerwartete. Innerhalb der breiten Kategorie des „Unerwarteten“ war in der Covid-Pandemie die Entwicklung und Ausbreitung mehrerer, aufeinanderfolgender Virusvarianten so noch nie da. Neu war auch, dass diese Varianten immer besser in der Lage waren, sich der durch Impfstoffe, frühere Infektionen oder therapeutische, gegen spezifische virale Epitope gerichtete monoklonale Antikörper erzeugten Immunität zu entziehen. Ein weiteres unerwartetes und Element des Ausbruchs war, dass bis zu 60 Prozent der SARS-CoV-2-Übertragungen von einer asymptomatischen Person ausgehen können. Das macht die in vielen früheren Ausbrüchen von Infektionskrankheiten bewährte Methode eingeschränkt wirksam, Kontaktpersonen nur in symptomatischen Fällen zu ermitteln.

Bei der Aerosolübertragung gab es vor der Pandemie vielleicht noch eine etwas zu einfache Vorstellung einer klaren Unterscheidung von der Tröpfcheninfektion. Während der Pandemie jedoch wurde erkannt, dass man das nicht so glasklar trennen kann. Es finden deutlich mehr Infektionen über Aerosole statt, als man zu Beginn dachte.

Zweite Lektion. Es ist wichtig, bei der Umsetzung von Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und bei der Entwicklung von Gegenmaßnahmen frühzeitig, schnell und aggressiv zu handeln. Wenn es sich um eine hochgradig übertragbare Infektion handelt, insbesondere um eine, die häufig von asymptomatischen Personen verbreitet wird, spiegelt die epidemische Kurve der schweren Fälle oder Todesfälle zu einem gegebenen Zeitpunkt die Übertragung wider, die bereits Wochen zuvor stattgefunden hat. Das „Jetzt“ wird in den Morbiditäts- und Mortalitätsdaten erst in einigen Wochen sichtbar. Was als scheinbar linearer Anstieg der Fälle beginnt, wird bald exponentiell. Bei einer Pandemie „aufholen“ zu wollen, ist zwangsläufig ein aussichtsloses Unterfangen.

Dritte Lektion. Der globale Informationsaustausch und die Zusammenarbeit sind von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Reaktion auf eine Pandemie. Gemeinsamer Zugriff auf Virusisolate, virale Genomdaten, Forschungsreagenzien, Daten zur Variantenüberwachung, klinische Proben und klinische Daten aus der Praxis sind unerlässlich, um das weltweit vorhandene Fachwissen optimal nutzen zu können. Das ist auch oft das Tor zu produktiven internationalen Kollaborationen. Auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie wurden erhebliche Vorteile durch Informationen erzielt, die den Forschern und Gesundheitsbehörden aus der ganzen Welt von Kollegen zur Verfügung gestellt wurden.

An dieser Stelle möchte ich chinesische und südafrikanische Wissenschaftler hervorheben: wissenschaftliche Teams in China hatten das neue Coronavirus vermutlich am 26. Dezember das erste Mal Virus sequenziert. Aber keine(r) machte es öffentlich, weil die chinesische Regierung Wissenschaftler daran gehindert hatte, Informationen darüber zu veröffentlichen. Yong-Zhen Zhang begann mit dem Virologen Edward Holmes eine Abhandlung über das Genom der neuen Corona Viren zu schreiben, die ein paar Wochen später in der Zeitschrift Nature erscheinen sollte. Dr. Zhang missachtete das Verbot und lud das Virusgenom am 10. Jänner 2020 in eine öffentliche Datenbank hoch. Ohne diese frühe, öffentlich zugängliche Information wäre vor allem die Entwicklung der PCR-Diagnostik verzögert worden. Der Start der Entwicklung der Impfstoffe (mRNA, Vektor und Subunit) hätte etwa um einen Monat länger gedauert.

Tulio de Oliveira, Direktor des südafrikanischen Zentrums für Epidemiebekämpfung und Innovation, identifizierte und meldete das Auftreten der Omikron-Variante im November 2021. Das war ein entscheidender Moment und ein Paradigmenwechsel – einer, der für mich symbolisiert, dass Spitzenleistungen in der Wissenschaft ihren Ursprung auch in Afrika haben können.

Die vierte Lektion betont die Bedeutung der Nutzung bereits vorhandener Fähigkeiten und Strukturen, wie z. B. des umfangreichen nationalen und internationalen Netzes von Infrastrukturen für klinische Studien, die über Jahrzehnte hinweg für die Durchführung klinischer Studien zu HIV-Therapeutika, Prävention und Impfstoffen eingerichtet und fein abgestimmt wurden. Etablierte klinische Forschungsnetzwerke, fast ausschließlich aus dem HIV-Bereich, schlossen sich praktisch über Nacht zum COVID-19 Prevention Network (CoVPN) zusammen. Tausende von Probanden durchliefen diese konsolidierten Netzwerke in klinischen Studien, welche die Sicherheit und hohe Wirksamkeit mehrerer COVID-Impfstoffkandidaten bewiesen.

In Großbritannien bildete sich rasch eine Initiative zwischen IT-Experten des Nationalen Gesundheitssystems und akademischen Statistikern und Epidemiologen zur Verknüpfung von Datensätzen auf der Grundlage elektronischer Gesundheitsakten, insgesamt von 58 Millionen Menschen. Dabei entwickelten die Forscherinnen und Forscher technische Methoden, in einer sicheren Analyseumgebung Daten zusammenzuführen, immer mit strengen Kontrollen zum Schutz der Privatsphäre der Patienten. Vereinfacht gesagt: niemand sah die rohen Daten, sie konnten nur damit rechnen. Nur vollständig anonyme Resultate konnten gespeichert werden. Der Erfolg Großbritanniens in der klinischen Covid-Forschung sollte Anlass sein, die sichere Analyseplattform OpenSAFELY zu studieren.

Fünfte Lektion und wohl wichtigste Lehre aus der Covid-Pandemie. Nachhaltige Investitionen in die Grundlagenforschung und die klinische Forschung sind entscheidend für die rasche Entwicklung wirksamer Impfungen (trifft auch für Therapien zu), die für eine optimale Reaktion auf eine Pandemie unerlässlich sind. Das aussagekräftigste Beispiel sind die jahrzehntelangen Investitionen in die Grundlagenforschung, die zur Entwicklung der bahnbrechenden mRNA-Impfstoff-Plattform führten. Hunderte von Wissenschaftlern hatten jahrzehntelang an mRNA-Impfstoffen gearbeitet, ehe die Coronavirus-Pandemie den Durchbruch brachte. Da ärgert mich (und auch den Reviewer der Kolumne) noch immer der primitiv-populistische Sager von Konrad Paul Liessmann, 2021 beim Philosophicum Lech, als er abwertend zur Impfung feststellte, dass Spitzenleistungen im Prinzip durch Außenseiter in der Wissenschaft zustande kommen. Er hat wohl noch nie was von Katalin Karikó gehört, die nach jahrzehntelangem Außenseitertum nun als Pionierin der mRNA-Technologie berechtigte Anwärterin auf den Nobelpreis ist. Es gibt wohl niemanden in der Fachwelt, der nicht den Nobelpreis für sie erwartet und noch mehr erhofft.

Parallel dazu widmeten mehrere Gruppen viele Jahre der Perfektionierung von Antigenen/Immunogenen. Sehr viel Wissen floss in das, was Proteinchemiker „strukturbasiertes Immunogendesign“ nennen. Das Wissen stammte aus der bislang noch erfolglosen HIV-Impfforschung, aus der Entwicklung von RSV-Impfstoffen im späten Stadium der klinischen Entwicklung und aus MERS-Impfstoffen.  Dieser strukturbasierte Ansatz zur Entwicklung von SARS-CoV-2-Immunogenen führte zu dem mutationsstabilisierten und hochwirksamen S-2P-Immunogen, das in den am häufigsten eingesetzten COVID-19 Impfstoffen verwendet wird.

Bei Covid mRNA-Impfstoffen war die Zeitspanne von der Identifizierung eines Erregers bis zur Entwicklung eines sicheren und wirksamen Impfstoffs der kürzeste Zeitraum in der Geschichte der Vakzinologie. Am 10. Januar 2020 wurde die genomische Sequenz von SARS-CoV-2 in eine öffentliche Datenbank eingestellt (siehe dritte Lektion). Innerhalb von 5 Tagen begann die Entwicklung des Moderna Covid-Impfstoffs; das Produkt von BioNTech/Pfizer hatte einen ähnlichen Zeitplan. Innerhalb von 65 Tagen wurde eine Phase-1-Studie, innerhalb von 139 Tagen eine Phase-2- wisse

 

 

und innerhalb von 198 Tagen die Phase-3-Studie begonnen. Eine Zwischenanalyse der Daten aus den klinischen Studien ergab Hinweise auf vorläufige Wirksamkeit am Tag 311, und am Tag 325 wurde bei der Food and Drug Administration (FDA) eine Notfallzulassung eingereicht (11). Somit standen in weniger als 12 Monaten Impfstoffdosen bereit.

Diese wissenschaftlichen Errungenschaften, zusammen mit den Milliarden von Dollar, die im Rahmen der Operation Warp Speed bereitgestellt wurden, ermöglichten eine Massenproduktion von Impfstoffdosen noch vor dem Nachweis der Wirksamkeit. Das führte zu einem beispiellosen Erfolg – einen sicheren und hochwirksamen Impfstoff in weniger als einem Jahr nach der Identifizierung eines neuartigen und tödlichen Erregers herzustellen. Ohne jahrzehntelange Investitionen in die Grundlagen- und klinische Forschung wäre dies niemals möglich gewesen. Ich finde es sehr interessant, dass die so erfolgreiche Operation Warp Speed in der öffentlichen Diskussion der USA zuletzt überhaupt keine Rolle mehr spielte. Scheuen die Demokraten das Thema, weil die Trump Administration für Operation Warp Speed verantwortlich zeichnete und die Republikaner, weil sie nicht mit der Impfung in Zusammenhang gebracht werden wollen? Absurd.

Um die Grundlagenforschung und die klinische Forschung aufrechtzuerhalten, müssen Kliniker und Wissenschaftler in den traditionell mit Infektionskrankheiten befassten Disziplinen wie Mikrobiologie, Virologie, Immunologie, Epidemiologie und öffentliche Gesundheit kontinuierlich ausgebildet werden. Ebenso wichtig ist Expertise in Physik, Chemie, Mathematik, sowie in computer-basierter Evolutionsbiologie („computational biologists“). Darüber hinaus wird eine neue Generation von Wissenschaftlern mit Fachkenntnissen in Ökologie und Evolutionsbiologie benötigt, um die Schnittstelle zwischen Menschen und Mikroben besser zu verstehen, ebenso wie Personen aus den Veterinärwissenschaften, die dazu beitragen, den Fluss von Mikroben zwischen Tier und Mensch zu beleuchten.

Die sechste Lektion unterstreicht den Nutzen des Prototyp-Erreger-Konzepts für die Pandemievorsorge und -bekämpfung. Diese Strategie beinhaltet die Auswahl von Virusfamilien, die ein hohes Potenzial haben, die Quelle eines Pandemieausbruchs zu sein. Zu diesen Familien gehören Coronaviridae (SARS-CoV-1, MERS, SARS-CoV-2), Orthomyxoviridae (Influenza), Paramyxoviridae (Nipah, RSV) und andere. Ziel ist es, ein Prototypvirus aus jeder Familie intensiv zu untersuchen, um das Auftreten eines neuartigen und potenziell pandemischen Erregers aus dieser Familie zu verhindern. Frühere Erfahrungen mit einem Prototypvirus einer bestimmten Virusfamilie in Bezug auf grundlegende Virologie, diagnostische Tests, Tiermodelle, Impfantigene, optimale Impfstoffplattformen und potenzielle Immunkorrelate des Schutzes wären im Falle des Auftretens eines potenziell pandemischen Virus dieser Familie aufschlussreich. Während der Covid-Pandemie haben unsere früheren Erfahrungen mit SARS-CoV-1 und MERS unsere Reaktion auf SARS-CoV-2 erheblich beeinflusst und erleichtert. Fauci geht davon aus, dass sich Basisstudien von Prototyp-Erregern in den „risikoreicheren“ Virusfamilien als äußerst nützlich erweisen werden, um eine rasche und wirksame Reaktion auf das Auftreten von Erregern mit pandemischem Potenzial in einer der fraglichen Virusfamilien zu ermöglichen.

Die siebte Lektion betont die Wichtigkeit, auf Störungen an der Schnittstelle zwischen Tier und Mensch zu achten. Mehr als 75 Prozent der neu auftretenden menschlichen Krankheitserreger sind zoonotisch, das heißt sie sind von einem tierischen Reservoir auf den Menschen übergesprungen. Beispiele hierfür sind HIV, Influenza, Ebola, SARS, MERS, Nipah und viele andere. Covid hat uns erneut gelehrt, dass wir härter daran arbeiten müssen, das Risiko der Übertragung von Krankheitserregern von Tieren auf den Menschen zu verringern, indem wir beispielsweise die Überwachung von Krankheitserregern an den Schnittstellen zwischen Menschen, Haustieren und Wildtieren ausbauen. Strikte Begrenzung der Abholzung und Zerstörung tropischer und subtropischer Wälder; Verbesserung der Gesundheit und der wirtschaftlichen Sicherheit von Gemeinschaften, die in Hotspots neu auftretender Infektionskrankheiten leben; Verbesserung der Biosicherheit in der Tierhaltung; Schließung oder strenge Regulierung der Märkte und des Handels mit Wildtieren.

Im Mai 2003 wurde das SARS-Virus (heute SARS-CoV oder SARS-CoV-1) aus mehreren Larvenrollern („palm civet“, Paguma larvata) isoliert, die auf einem Wildtiermarkt in Guangdong, China, gefunden wurden. Auch bei anderen Tieren, darunter einem Marderhund („racoon dog“, Nyctereutes procyonoides), und bei Menschen, die auf demselben Markt arbeiteten, wurden Anzeichen für eine Virusinfektion festgestellt. Nach dem Nachweis von SARS-ähnlichem CoV bei Larvenrollern wurden diese Tiere von den Wildtiermärkten verbannt, sind aber im Jahr darauf erneut auf Tiermärkten aufgetaucht. Die Kundennachfrage hat den Preis für Zibetkatzen auf 200 US-Dollar in die Höhe getrieben, was es wahrscheinlich macht, dass solche Tiere erhältlich wären, unabhängig davon, ob sie verboten sind oder nicht.

Etwa zur gleichen Zeit etablierte sich One Health, ein kollaborativer, multisektoraler und transdisziplinärer Ansatz, der auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene arbeitet, um optimale Ergebnisse in Bezug auf Gesundheit und Wohlbefinden zu erzielen, wobei die Zusammenhänge zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und ihrer gemeinsamen Umwelt berücksichtigt werden. Im Zuge der Covid-Pandemie wurden in Deutschland dann vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auch eine One-Health-Strategie sowie ein entsprechendes Referat eingerichtet. Österreich?

Achte Lektion. Die seit langem bestehenden systemischen gesundheitlichen und sozialen Ungleichheiten sind die Ursache für pandemiebedingte Ungleichheiten. Covid hat ein grelles Licht darauf geworfen, wie soziale Determinanten der Gesundheit zu Ungleichheiten bei der Häufigkeit und Schwere von Krankheiten führen. Wirtschaftliche Ungleichheiten führen zu einer Überrepräsentation von Berufen in wichtigen Arbeitsumgebungen, in denen Home Office oder Arbeiten mit ausreichenden Abständen schwierig oder unmöglich war/ist. Grundlegende Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht, chronische Lungen- und Herzkrankheiten u. a. führen zu einem erhöhten Risiko, schwer an Covid zu erkranken. Diese sozialen Determinanten der Gesundheit verschwinden nicht in Wochen oder Monaten oder gar Jahren. Sie werden jedoch nie verschwinden, wenn wir uns nicht jetzt nicht daran machen, sie zu beseitigen.

Und die Ungleichheiten global? „Wurde die globale Gesundheit gar umgestoßen?“ wie es im Mai 2020 noch behauptet wurde: „Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte von Epidemien gibt es eine Umkehrung der Frage, welche Länder am stärksten von einer Pandemie betroffen sind.“ Die offiziellen Mortalitätsdaten schienen die Aussage zu stützen, dass die Armen diesmal besser davongekommen wären, und diese Gedanken hielten sich hartnäckig. Die offiziellen Daten zur Covid-Mortalität haben aber mehr als einmal getäuscht. Die Realität der überzähligen Todesfälle („Excess mortality“) zeigt jedoch, dass die Entwicklungsländer während der Pandemie weitaus stärker betroffen waren, als gemeinhin angenommen wird. Die Schwachen im Rest der Welt sind doch nicht immuner.

Die neunte Lektion lässt Tony Fauci „laut und deutlich“ (loud and clear) erschallen. Fehlinformationen und Desinformationen sind der Feind der öffentlichen Gesundheit und der Pandemiebekämpfung (24). Es gibt viele Beispiele für die Tragödie von Fehlinformationen im Zusammenhang mit Maskierung, sozialer Distanzierung, Impfstoffsicherheit und mit unverblümten Verschwörungstheorien. Es gibt keine einfache Lösung, um dieser beunruhigenden Welle von Fehlinformationen und Desinformationen entgegenzuwirken, außer dass wir alle weiterhin wissenschafts- und evidenzbasierte Informationen ebenso aktiv verbreiten wie diejenigen, die das Gegenteil verbreiten.

Meiner Ansicht nach muss man über das populäre „Wissensdefizit-Modell“ der Anti-Wissenschafts-Stimmung hinausgehen, welches eine einseitige Beziehung zwischen sachkundigen Experten und einer unwissenden, belehrungsbedürftigen Öffentlichkeit unterstellt. Maßnahmen, die auf der Bereitstellung wissenschaftlicher Beweise zur Widerlegung von Impfmythen beruhen, haben sich weitgehend als unwirksam erwiesen. Die Bedeutung der Demokratie für die Festigung des Vertrauens der Bevölkerung in öffentliche Gesundheit spielt eine wesentliche Rolle. Statt technokratischer Hybris brauchte es robuste neue Formen demokratischer Bescheidenheit: institutionelle Mechanismen – einschließlich einer stärkeren Bürgerbeteiligung – um Erinnerungen, Erfahrungen und Gerechtigkeitsanliegen in Politikkonzepte einbeziehen zu können.

Zehnte Lektion. Neu auftretende Infektionen werden uns immer begleiten. Im Laufe der Geschichte hat es sie immer gegeben, und sie werden mit Sicherheit auch in Zukunft wieder auftreten. Das Auftreten neuer Infektionen ist vielleicht unmöglich zu verhindern, aber ihre Entwicklung zu Pandemien zu stoppen, liegt in unserer Hand, wenn eine angemessene Pandemievorbereitung und vor allem eine angemessene Reaktion auf eine Pandemie stattfinden.  Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir uns dafür einsetzen, dass eine Pandemie dieses Ausmaßes sich nicht wiederholen wird.

P.S.: Vor zwei Wochen beim HIV-Update in Salzburg begrüßte mich ein junger Kollege mit „im Juni ist es soweit“. Als ich ein wenig verdattert dreinschaute, legte er nach: „im San Francisco General Hospital“. Fast hatte ich vergessen, ich legte ihm letztes Jahr eine Schiene, um am „SFGH“ für einige Wochen am dortigen HIV-Zentrum zu hospitieren. Allerdings waren die administrativen Anforderungen so hoch, dass der Aufenthalt verschoben werden musste. Aber jetzt sei es soweit, die Auffrischungsimpfung gegen Covid mit dem Omikron Anteil hat er erhalten, die ist im SFGH nämlich Berufserfordernis für alle Angestellten. Ich teilte ihm mit, dass das SFGH gerade die Aufrechterhaltung der Maskenpflicht beschlossen hat. Schon erstaunlich, wie mich das SFGH seit bald 40 Jahren positiv überrascht. Habe dem Kollegen übrigens einen wissenschaftlichen Auftrag erteilt, er muss herausfinden, woher der Nachname von Robert (Bob) Wachter stammt, dem Leiter des Departments für Medicine am SFGH. Schließlich ist Wachter im heimischen Montafon ein häufiger Name.« R. Z.


Im Übrigen bin ich der Meinung, die Regierung muss die Wiener Zeitung retten.


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Was wir aus der Pandemie gelernt haben könnten: Distanz kann nicht schaden, halten Sie Ihre Impfungen up to date, Händewaschen ist nie falsch, benützen Sie Masken, wenn es sich empfiehlt, und bleiben Sie rücksichtsvoll. Ihr Armin Thurnher

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