Rückfahrt durch das schwürkise Schwinditum

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 975

Armin Thurnher
am 27.03.2023

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Da durchfuhr ich sie wieder, die weiche weite Landschaft, die am besten unter einen grauen Regenhimmel passt, vielleicht mit einem kranken Lichtstreifen, der den Horizont schärft und die Silhouetten blattloser Bäume und die Umrisse von Hochständen hervortreten lässt. Vor dem Fenster drehten sich jetzt Windräder, eine Technodystopie, grün gesegnet, die wird ihnen noch leid tun, Landschaftszerstörer mit leerlaufenden Akkus, dahinter der verschneite Ötscher; das Hell über den Hügeln ist hier weniger grell als neulich im Weinviertel, nur weißlich. St. Pölten.

In der Business Class sitzen sie am Gang auf dem Boden. In Deutschland hat streikvorauseilend das Reservierungssystem nicht funktioniert, Leute setzten sich einfach in irgendwelche Sitze, der österreichische Schaffner wollte dann nur die Reservierung sehen, prüfte sie immerhin digital, der deutsche, leicht hysterisiert, hatte das Mobiltelefon nur angesehen, froh weiterzukommen in diesem Chaos der Anspruchssteller.

Die Reise hatte nicht gut begonnen. Saß frühmorgens in Bregenz am Bahnsteig auf der Bank, wartete auf den Zug nach Lindau, da fand auf dem Gleis hinter mir eine „Zugsdurchfahrt“ statt, der Lautsprecher warnte davor, ich, schlaftrunken von der Umstellung auf Sommerzeit, blickte der gefährlichen Durchfahrt nach und dachte, dass solche bisweilen Kinderwägen davonwehten, für die zerstreuten überforderten Müttern eine Katastrophe, für die Zeitungen eine außergewöhnliche Meldung, und als ich mich umdrehte, war der kleine, leise Regionalzug nach Lindau gerade abgefahren, nicht unter meiner Nase, hinter meinem Hinterkopf.

Alzheimer-Gewissheiten brachen ab wie Gletscher, um einen  in der New York Review of Books abgedruckten Lyriker zu zitieren.

Early Alzheimer’s

A shelf of memory calving into the sea

like an Antarctic glacier on TV

these scenes of climate change

heightening the senescence

we try to fathom day by day

as yet another point of reference

quietly crashes away

[Vom frühen Alzheimer

Ein Regal voll Gedächnis kalbt in die See

wie ein antarktischer Gletscher im TV

diese Klimakrisen-Szenen

spitzen die Vergreisung zu

die wir täglich auszuloten versuchen

während ein weiterer Bezugspunkt

still wegbricht]

Richard Sieburth, mein Jahrgang, 1949, ich werde mir einen Band von dem  besorgen, das ist doch gut, oder?

Bekam dann doch noch einen Anschlusszug, allerdings muss man, um den zu erreichen, im Bahnhof München samt Radkoffer entschlossen die träge Menge der Reisenden durchpflügen, wobei man die ganze Ausdehnung des Bahnhofs durchmisst (13 Minuten veranschlagte die Reisevorschau in der App dafür, ich tat es in acht).


Das Kurzzeitgedächtnis ist ein Thema bei meiner Mutter, die ich gerade besucht hatte. Sie leidet unter seinen Ausfällen und ist virtuos darin, sie zu überspielen, mit Gegenfragen, schlagfertigen Volten, amüsanten Ablenkungen. Was aber ist ihre Virtuosität im Vergleich mit jener der ÖVP?

In der Bundes-ÖVP scheint man von Ost bis West zu glauben, es reiche, der niederösterreichischen SPÖ die Schuld zu geben. Diese habe mit überzogenen Forderungen die ÖVP in die Arme der FPÖ getrieben. Da bricht einem das Herz. Die ohnehin durch Volksliebesentzug seelenwunde, schleiertragende Landeshauptfrau, zart an Empfindung und feinsinnig in der Formulierung, knickte vor der Markigkeit des Giganten Hergovich ein, als dieser seine berüchtigte eiserne Faust ballte. Sie floh eingeschüchtert und entgeistert zur sensiblen Selbsterfahrungs-Männergruppe „Udo“, wo man vor Bosheit schon deswegen gefeit ist, weil man händchenhaltend Lieder singt. Das ist eben echtes Liedership.

Solches Zeug drehen uns die Schwürkisen an. Koalitionen mit der niederösterreichischen FPÖ seien „gängige Praxis“, sagte Kanzler Karl, während im fernen Westen der kaum vom Wirtschaftsbund genesene  Landeshauptmann Wallner gleich ganz den Kommentar verweigerte. Man solle Politologen fragen oder so.

Vielleicht möchte er den Lustenauer Bürgermeister kontaktieren? Kurt Fischer ist einer jener Schwarzen, die wir hier mit der Seele suchen. Er sieht die Sache etwas anders und ist außerdem nicht vor Schreck aufs Maul gefallen: »In der drohenden Verwüstung unserer Demokratie muss Politik den Glauben der Menschen an eine gemeinsame Zukunft stärken. Diesem Ziel sollte vieles untergeordnet werden, auch das traditionelle Bedienen des Boulevards, der den Menschen eher das Fürchten lehrt als das Hoffen. Liberale Demokratie ist ein aufklärerischer Prozess, in einer Dialektik von konservativen und progressiven Kräften. Eine Koalition der Hoffnung müsste sich gegenaufklärerischen, demokratiefeindlichen Kräften entschieden entgegensetzen und gezielt in Bildung, in Dialogfähigkeit investieren und in eine Medienlandschaft, die unsere liberale Demokratie stärkt und vor einer schleichenden Orbánisierung schützt.

Freilich, eine solche Partnerschaft für die Zukunft scheint in weiter Ferne. Auch links von der Mitte erodiert der einst feste Boden, auch das schwächt die liberale Demokratie und stärkt populistische, illiberale Kräfte. Ein erster wichtiger Schritt für alle konstruktiven Kräfte wäre die Stärkung der Bedeutung der kommunalen und regionalen Politik – Menschen erleben sie unmittelbar, vertrauen ihren Institutionen und können ihre Zukunft aktiv mitgestalten. Vielleicht geht die ÖVP richtungsweisend auf die Bevölkerung wie auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zu. Sie warten in der Mitte.« (Kurt Fischer, Der Standard, 22.3.2023)


Der Hinsichtl-Rücksichtl-Journalismus lässt nicht nach. Ich verstehe, dass man als konservativ geneigter Kommentator in diesen Tagen der Verzweiflung anheimfällt. Man dankt Fleischmann auf den Knien für die Roten Chaostage. Die kann man dem schwürkisen Schwinditum in Niederösterreich und sonstwo gegenüberstellen, um den verheerenden Eindruck konservativer Selbstaufgabe abzumildern.

Mag sein, dass das aufgeht. Zwar sind Rote Chaostage noch keine Balkanroute. Aber führende konservative Publizisten und das mächtigste Medium im Lande, der ORF, scheinen entschlossen, bei diesem Spin zu bleiben, immer weltmännisch und in rundfunkgesetzlich kompatibler journalistischer Ausgewogenheit, versteht sich.

Andererseits verhält sich die Kronen Zeitung neuerdings zumindest offen gegenüber ÖVP-Kritikern; die bedingungslose Unterstützung der Rechtsextremen hat man dort offenbar eingestellt. Man wird bescheiden, sehr bescheiden.


Weiße Wolken Schlehenschaum, gelbe Forsythienflammen in den Hecken, ockertrockene Äcker, käferdurchsiebte Wälder. Ich bin zu Hause.


Im Übrigen bin ich der Meinung, die Regierung muss die Wiener Zeitung retten.


P.S.: Die Passage über die davongewehten Kinderwägen wurde geändert, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, ich mache mich über das Unglück der Mütter lustig.


Im Sinn des Maskenfalls habe ich übrigens mein stehendes Seuchenschlusswort neu formuliert (native speakers aller Länder, feilet daran!):

Distance preferably, hands when possible, masks when needed, always considerate! Ihr Armin Thurnher

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