Über Sterblichkeit und Übersterblichkeit bei Covid

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 955

Armin Thurnher
am 03.03.2023

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Heute informiert uns Epidemiologe Robert Zangerle über statistische Probleme bei der Erfassung der Übersterblichkeit. Zugleich erklärt er, was das ist, und macht allen klar, dass Covid – anders als ein paar Schwurbler mit vermeintlichem Oberwasser uns jetzt weismachen möchten – mehr als nur ein harmloses Gripperl war. A.T.

»Eine natürliche, wenn auch manchmal unangemessene Neigung in der Pandemie ist der Versuch, eine Rangfolge von Regionen oder Ländern in Bezug auf die verschiedenen Messgrößen der gesundheitlichen Folgen einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu bewerten. Ein Vergleich der Auswirkungen der Covid-Pandemie zwischen verschiedenen Ländern oder im Zeitverlauf ist jedoch schwierig, da die gemeldeten Fall- und Todeszahlen stark von der Testkapazität und der Meldepolitik beeinflusst werden können. Die Übersterblichkeit, definiert als der Anstieg der Gesamtsterblichkeit im Vergleich zur erwarteten Sterblichkeit, wird weithin als objektiverer Indikator für die Covid-Todesfälle angesehen. Die Übersterblichkeit ist ein seit Jahrhunderten bewährtes Konzept, mit dem die Folgen früherer Gesundheitskrisen und Pandemien wie der Grippepandemie von 1918 abgeschätzt werden. Diese Messgröße überwindet die Unterschiede zwischen den Ländern bei der Berichterstattung und den Tests sowie die Fehlklassifizierung der Todesursache auf den Totenscheinen und erfordert nur Informationen über die Gesamtzahl der Todesfälle.

Das Magazin The Economist hat ein Modell mit maschinellem Lernen (arbeitet mit mehr als 100 statistischen Indikatoren) entwickelt, auf das die Seuchenkolumne ob dessen Qualität mehrfach verwies, z.B. hier. In obiger Weltkarte bedeuten die farbig codierten Zahlen: 0 = keine Übersterblichkeit; z.B. 350 = 350 Todesfälle mehr als erwartet pro 100 000. Der Verlust an Menschenleben ist global gesehen in den meisten Ländern viel höher, als es die gemeldeten Covid-Todesfälle aussagen. Die Zahl der Menschen, die aufgrund der Covid-Pandemie gestorben sind, könnte etwa dreimal so hoch sein, wie die offiziellen Zahlen vermuten lassen, so mehrere Analysen:

Ariel Karlinsky von der Hebräischen Universität in Jerusalem und Dmitry Kobak vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde haben bereits Anfang 2021 die Datenbank World Mortality Dataset geschaffen, die frei zugänglich ist und regelmäßig ein Update erfährt. Erste Ergebnisse  wurden 2021 veröffentlicht. In mehreren der am stärksten betroffenen Länder (Peru, Ecuador, Bolivien, Mexiko) liegt die Übersterblichkeit über 50% der erwarteten jährlichen Sterblichkeit oder, in absoluten Zahlen ausgedrückt, bei über 400 überzähligen Todesfällen pro 100 000 Einwohner (Peru, Bulgarien, Nordmazedonien, Serbien). Gleichzeitig lag die Sterblichkeit in mehreren anderen Ländern (z. B. Australien und Neuseeland) in den ersten zwei Jahren der Pandemie unter dem üblichen Niveau, was vermutlich auf soziale Distanzierungsmaßnahmen zurückzuführen ist, welche die nicht-Covid-bedingte Sterblichkeit stärker verringert haben, als Covid sie erhöht hat. Außerdem wurde festgestellt, dass viele Länder die Covid-Todesfälle sehr genau gemeldet haben, während einige Länder ihre Covid Todesfälle erheblich untertrieben haben (z. B. Nicaragua, Russland, Usbekistan).

Am 5. Mai 2022 veröffentlichte die WHO online eine Studie zur Übersterblichkeit für 194 Länder. Die WHO schätzte, dass von Januar 2020 bis Dezember 2021 zwischen 13,3 Millionen und 16,6 Millionen Menschen aufgrund der Pandemie gestorben sind, mehr als das 2,5-fache der gemeldeten Covid-Todesfälle. Diese Schätzung war konservativer als andere Analysen der Übersterblichkeit.

Einige Beobachter äußerten jedoch bald Bedenken hinsichtlich der Zahlen für bestimmte Länder, insbesondere für Deutschland. Es wurde angenommen, dass es mit Covid besser fertig geworden sei, als viele andere Länder in Europa. Die WHO hingegen schätzte die Zahl der überzähligen Todesfälle in Deutschland höher ein als in vielen seiner Nachbarländer. „Wir haben fast sofort gemerkt, dass es ein Problem gibt“, sagte Jon Wakefield, ein Statistiker an der University of Washington in Seattle, der das globale Covid-Projekt der WHO leitet und auch unmittelbar die korrigierten Zahlen der Öffentlichkeit bekannt gegeben hat, offiziell publiziert wurde die Studie dann erst kurz vor Weihnachten 2022 in Nature.

Bei der Überarbeitung ihrer Methoden haben die Forscher der WHO die Schätzung der pandemiebedingten Todesfälle in Deutschland dann um 37 % gesenkt!  Was hat die WHO falsch gemacht? Die Forscher modellieren die erwartete Sterblichkeit, indem sie die Sterbefälle der vorigen Jahre extrapolieren. Zum Beispiel verwendet das World Mortality Dataset (WMD), eine einfache lineare Extrapolation von Todesfällen im Zeitraum 2015-19, um die zugrunde liegenden Sterblichkeitstrends zu berücksichtigen. Die WHO-Gruppe (einschließlich Ariel Karlinsky vom WMD)  verwendete jedoch eine mathematische Funktion namens „thin-plate spline“, um die erwarteten Todesfälle für 2020-21 zu berechnen. „Spline“ ist die englische Bezeichnung für eine dünne elastische Latte, die  Straklatte, die vor allem im Schiffbau beim Entwurf und Bau an beliebig vielen, vom Konstrukteur vorgegebenen Punkten fixiert wird und so die Punkte dann durch eine glatte und harmonische Biegelinie verbindet. Ganz analog verhält es sich in der Statistik, obwohl es dort verschiedene Anwendungsarten gibt, mehr kann der hier als Hochstapler fungierende Seuchenkolumnist nicht dazu sagen.

Die Verwendung des Jahres 2015 als Ausgangsjahr in der WHO-Studie führt mit der ursprünglich angewandten Methode zu einem sehr schlechten Ergebnis, so Jonas Schöley vom Max-Planck-Institut für Demografische Forschung und Tamás Ferenci. Selbst eine einfache lineare Extrapolation, deren Ergebnisqualität generell bei Berechnung der Übersterblichkeit stark von der Wahl des Ausgangsjahres abhängt, war besser als die WHO Methode. Die Acosta-Irizarry-Methode, auch auf Splines basierend, übertraf die WHO-Methode deutlich. Warum hier so kompliziertes Zeug diskutiert wird? Die Auflösung folgt indirekt, zuerst aber wird veranschaulicht, was als German Puzzle bezeichnet wird. Hier die ursprüngliche Annahme, wo für Deutschland für 2020 und 2021 wesentlich niedrige Todesfälle als 2019 erwartet wurden.

Das WHO-Team Team überprüfte also ihre „thin-plate spline“ Extrapolationsmethode und korrigierte sie. Doch dann entdeckte es ein zweites Problem, das sich als noch besorgniserregender herausstellte: Ihre Daten für die tatsächlichen Todesfälle in Deutschland stimmten nicht mit den Rohdaten der deutschen statistischen Ämter überein. Diese Diskrepanz betraf auch die Todesfälle 2015 – 2019, denn diese hatten eine wichtige Rolle für die niedrige Extrapolation der erwarteten Todesfälle gespielt. Die Diskrepanz entstand, weil die WHO-Wissenschaftler die rohen Sterbedaten angepasst – oder ,skaliert‘ – hatten, was die WHO macht, wenn sie mit unvollständigen (weil zu wenig gemeldeten) Sterblichkeitsdaten arbeitet. Es wurde zu wenig reflektiert, ob ein solches Verfahren auch für Deutschland gelten würde, ein Land mit einer detaillierten Mortalitätsberichterstattung. Hier die berichtigten Daten:

Dies als Einstieg in die Studie über das globale Ausmaß der Übersterblichkeit des Teams des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) von der Washington Universität in Seattle. Sie wurde am 10. März in der Zeitschrift The Lancetveröffentlicht: Auch hier äußerten einige Beobachter hinsichtlich der Zahlen für bestimmte Länder bald Bedenken. Sie wollten auf die Veröffentlichung im Lancet reagieren. Die Gruppe mit Jonas Schöley schickte ihre Reaktion („Letter to Lancet“) im April 2022 an Lancet; erst am 9. Jänner 2023 wurde sie schließlich abgelehnt. Begründung: „Wir hatten [die Autoren] aufgefordert, Ihren Brief zu prüfen, aber leider haben wir nie eine offizielle Antwort von ihnen erhalten“. Wenn „Aussitzen zu einer brauchbaren Strategie wird“ protestierte Schöley, „dann verlieren Reaktionen jedwede Bedeutung“. Daraufhin lenkte Lancet ein und  veröffentlichte diesen und vier weitere Lancet Letters, in denen die Zuverlässigkeit der IHME-Schätzungen der überzähligen Todesfälle für einige Länder in Frage gestellt wurde. Fehler passieren, aber während fehlerhafte WHO-Schätzungen innerhalb weniger Tage öffentlich zugegeben und korrigiert wurden, hat IHME 10 Monate lang gezögert und die Probleme immer noch nicht eingestanden (in ihrer Antwort auf die Letters gingen sie nicht auf die Argumentationen der Kritiker ein).

Schöley und Koautoren zeigten, dass IHME-Schätzungen für eine Reihe von Ländern nicht plausibel sind. Die Logik ist einfach: Die IHME-Schätzungen für eine Reihe von Ländern mit guten Daten sind nicht plausibel, weil sie eine unrealistische Zahl von erwarteten Todesfällen implizieren, die nicht mit den Trends vor der Pandemie (2000/2001 bis 2018/2019) übereinstimmen. Nicht-plausible Übersterblichkeitsschätzungen fanden sie für viele andere Länder, darunter Dänemark, Deutschland, Belgien, Spanien, Portugal und Kasachstan, siehe nächste Abbildung.

Hervorgehoben werden soll ein weiterer Letter to Lancet aus diesen erwähnten fünf Letters , und zwar von Wissenschaftlern des EuroMOMO Netzwerkes am Statens Serum Institut in Kopenhagen. Sie fanden für mehrere Länder mit zuverlässigen Mortalitätsberichten widersprüchliche Schätzungen der Übersterblichkeit. Für Dänemark beispielsweise zeigte die IHME Gruppe eine Übersterblichkeit von 203 % gegenüber der Schätzung von EuroMOMO. Sie ziehen den Schluss, dass die Schätzungen aus dieser Studie aus globaler Sicht wichtig sind, aber für einzelne Länder Euro MOMO zuverlässiger wäre. Ich würde das für Österreich bestätigen.

In der folgenden Abbildung findet man die Sterbefälle in Österreich seit 1970. Es kam innerhalb von 30 Jahren zu einer Abnahme der Todesfälle um 15% und seither wieder zu einem Anstieg. Mir fehlt das konkrete Fachwissen, wie das kommentiert werden könnte. Jedenfalls spielen dabei Faktoren wie Zunahme der Lebenserwartung, Alterung der Bevölkerung und Zuwanderung, gleichzeitig aber auch zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichem Ausmaß eine Rolle. Im unteren Teil der Abbildung sind die Todesfälle seit 2005 dargestellt; die rote Linie ist eine lineare Fortschreibung, die erstaunlich gut mit den erwarteten Todesfällen, wie sie Statistik Austria berechnet, übereinstimmt. Wie weiter oben schon ausgeführt, ist bei der linearen Extrapolation die Wahl des Ausgangsjahres wichtig. Meine Auswahl scheint im konkreten Fall Österreich richtig zu liegen (trotz der sehr vielen Jahre – seit 2005 –  die berücksichtigt wurden). Statistik Austria macht das mit einem komplexen log-linear Model. Im Jahr 2022 sind in Österreich 7,8% mehr Menschen verstorben (92.107 in Abb. unten), als es erwartet werden konnte (85.427 in Abb. unten).

Über das Ausmaß der Übersterblichkeit (Spoiler: episodisch enorm!) gehe ich näher in der nächsten Kolumne mit einem neuerlichen Vergleich mit der Schweiz ein, dieses Mal mit Schwerpunkt 2021 (Corona: Weniger Tote in der Schweiz. Ein Österreich-Vergleich).

Der Falter, die Zeitschrift die sie vielleicht kennen, fragt am 1. Februar dieses Jahres, warum die Übersterblichkeit in Wien so gering ist. Und gibt dann eine kuriose Antwort: „Eine Meldung der Statistik Austria überrascht: Im Jahr 2022 starben um 6,1 Prozent mehr Wiener als erwartet. In ganz Österreich lag diese Übersterblichkeitsrate aber bei über zehn, in Vorarlberg sogar bei 16,5 Prozent. Ist Wien die Insel der Lebendigen? Eher nein, die Auswertung der Todesursachen liegt noch nicht vor. Bekannt ist aber die Methode der Statistiker: Sie vergleichen die Zahl der Tode mit dem kurzen Zeitraum 2015 bis 2019. Wenn in jener Zeit besonders viele Wiener starben, würde das nun eine geringe Übersterblichkeit bedeuten.“ Der Falter hat ersichtlicher Weise  Tamás Ferenci von der Universität Budapest nicht kontaktiert, weil der eindeutig beschreibt, dass der Durchschnitt (hier konkret der Durchschnitt der jährlichen Todesfälle 2015 – 2019) in den meisten Fällen zum schlechtesten Ergebnis führt.

Ich weiß nicht, wieso ausgerechnet diese Bullshit-Zahl die Runde machte, weil auch Statistik Austria zusätzlich andere Zahlen angab (aber sie sollte diesen Vergleich mit dem Durchschnitt streichen). Übersterblichkeit ist die Differenz zwischen der Zahl der erwarteten und der beobachteten Todesfälle. Wenn man das als Grundlage nimmt, dann beträgt die Übersterblichkeit von Vorarlberg 9,7% und für Wien 5,5% (siehe unterer Teil der obigen Grafik). Die restlichen Bundesländer pendeln exakt zwischen diesen beiden Werten, mit Burgenland wie Wien und die Steiermark wie Vorarlberg.

Morgen geht es mit der Übersterblichkeit weiter. Außerdem gibt’s einen kurzen Kommentar zur jetzigen Welle.

Weil an Biertischen und sonstwo zunehmend wieder die Meldung auftaucht „war eh alles nicht so schlimm“, sei klipp und klar festgestellt: Wie immer man die statistischen Analysen und ihre methodischen Probleme dreht und wendet, Covid hat einen erschreckend hohen Tribut an Menschenleben gefordert. Weltweit, aber auch bei uns.


Im Übrigen bin ich der Meinung, die Regierung muss die Wiener Zeitung retten.


Im Sinn des Maskenfalls habe ich übrigens mein stehendes Seuchenschlusswort neu formuliert (native speakers aller Länder, feilet daran!):

Distance preferably, hands when possible, masks when needed, always considerate!

Ihr Armin Thurnher

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