Saboteusen der Öffentlichkeit

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 952

Armin Thurnher
am 28.02.2023

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East Palestine/Ohio, 6.2., drei Tage nach dem Unfall Foto: Wikipedia (National Transportation Safety Board)

Vor sehr kurzer Zeit traf ich meinen Verleger. Er machte mir ein Geschenk, das ich nicht ablehnen konnte: die ersten beiden Exemplare meines neuen Buchs. Wenn Sie fragen, warum ich (und noch früher er) es bereits jetzt in Händen halten, während Sie, verehrtes Publikum, noch bis 20. März darauf warten müssen, kann ich das mit den Mechanismen der Buchauslieferung erklären. Wenn ein Buch die Buchbinderei verlässt, ist es zwar physisch präsent, aber noch lange nicht im Handel. Da gibt es Logistikketten zu überwinden, Auslieferungszentren hinter sich zu lassen, Bestellungen von Buchhändlern zu erfüllen. Schließlich sollen die Bücher am Stichtag überall im deutschen Sprachraum gleichzeitig verfügbar sein; kein Wettbewerbsvorteil für niemanden.

So ein erster Moment der Begegnung mit sich selbst sorgt bei einem Autor immer für Erschrecken. Nach der ersten kurzen Freude bangt er, ob das Aussehen dem entspricht, was er sich vorgestellt und in der Vorschau vorgestellt bekommen hat. Diesfalls: Freude!

Der erste Fingerschlag hinein ins Buch trifft den ersten Druckfehler; daran ist man nach mehr als einem Dutzend Bücher bereits gewöhnt. Was naturgemäß nicht nachlässt, ist die beunruhigende Frage, ob man das richtige Maß gefunden hat. In meinem Buch „Republik ohne Würde“ stecken beispielsweise zwei bis drei Bücher.

Das Buch, Sie wissen es vielleicht bereits, heißt „Anstandslos“ und erscheint bei Zsolnay. Es handelt sich um einen Essay über nicht nur österreichische Zustände, und ich habe mich bemüht, das richtige Maß zu treffen, was den Umfang betrifft.


Die zweite Frage, die den Autor an seinem neuen Buch beunruhigt, betrifft dessen Aktualität. In diesem Essay geht es darum, wie uns die Demokratie unter der Hand entwendet wird, unter bemühter Teilnahme aller möglichen Betroffenen, besonders derer, die stets cool und unbetroffen tun. Ich frage mich zum Beispiel, ob Ministerinnen und Bundeskanzler, die bewusst öffentlich-rechtliche Medien zerstören, nicht ihren Diensteid verletzen, demzufolge sie sich doch verpflichten, im Dienst der Verfassung tätig zu werden, welche bekanntlich unter anderem demokratisch und republikanisch ist.

Wir kennen ja den Wortlaut aus jener denkwürdigen Angelobung im Parlament, als infantile Faschos dem Bundespräsidenten die Akklamation verweigerten: „Ich gelobe, dass ich die Verfassung und alle Gesetze der Republik getreulich beobachten und meine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen werde.“ Die Beobachtung der Gesetze zielt nicht auf ornithologisches Verhalten ab, sondern meint die Einhaltung der Gesetze, ein Unterschied, das der Medienunminsterin Susanne Raab bei Gelegenheit jemand erklären könnte.

Eine Regierung, die Medien wie die Wiener Zeitung und den ORF, also im Prinzip öffentlich-rechtliche Organe (oder solche mit dem Potential, es zu werden) bewusst zerstört, entmachtet oder in ihren Möglichkeiten beschränkt, der schwächt das öffentliche Interesse. Wer zusätzlich private Medien ohne Ansehung des Unterschieds stärkt, ob die dem öffentlichen Interesse dienen oder nicht, schwächt das öffentliche Interesse. Beides widerspricht dem Geist der Verfassung und sollte als Offizialdelikt erachtet werden. Diese Forderung wird gewiss herzliches Lachen bei Juristen hervorrufen, was nur zeigt, wie weit es mit uns gekommen ist.


Wir gewöhnen uns an die bizarrsten Szenen der Volksverhöhnung, die uns umso besser einleuchten, je ferner sie uns liegen. Im schütter besiedelten Dorf East Palestine im nördlichen Ohio entgleiste am 3. Februar ein mit gefährlichem Giftgastanks beladener Güterzug; der Inhalt einiger Waggons entzündete sich. Die zuständigen Behörden traten in Aktion, es wurde niemand von den 4700 Bewohnern verletzt oder getötet. Wenig später wurden weitere Waggons von den Behörden gezielt entleert und angezündet, um eine Explosion zu verhindern. Es kam zu einer spektakulären Rauchsäule, aber zu keinen messbaren Schäden (glaubt man den Behörden).

Trotzdem wurde mit der üblichen Social-Media-Mechanik aus einer Zugentgleisung, wie sie im Jahr in den USA im Jahr 2019 1335mal passiert (in der EU im gleichen Zeitraum 73mal, in Japan acht(8)mal) ein Fanal. Das Routineunglück mutierte zum auch international beachteten Skandal, als Donald Trump sich mit Wagenladungen von Wasser, Pizza und Hamburger an Ort und Stelle einfand (niemand in  East Palestine litt Durst oder Hunger) und erklärte, die Bevölkerung werde von Joe Biden allein gelassen, der zur gleichen Zeit mit einem Zug nach Kiew reiste.

Sogleich geriet die Biden-Administration samt dem doch noch herbeigeeilten Verkehrsminister Pete Buttigieg in die Defensive, und die eigentliche Pointe ging völlig unter: dass nämlich Trump eine Verschärfung der Eisenbahn-Sicherheitsgesetze, die noch von seinem Vorgänger Barack Obama vorgesehen war, dreimal parlamentarisch verhindert hatte. Trump schlägt also propagandistischen Profit aus einem Unglück, das sich mutmaßlich deswegen ereignete, weil er Gesetze sabotierte, die es verhindern hätten können.


Um solche beunruhigenden Fragen von schleichender Sabotage der Öffentlichkeit durch perverse Mechanismen der Desinformation dreht sich mein Buch. Leider gewinnt es täglich an Aktualität.


A propos Aktualität: Leser Johannes H. Schmiedt aus Katzelsdorf teil mir mit, dass die Nummerierung der Kolumne im Jänner verrutschte. Die Nummer 924 habe ich zwei Mal vergeben. Einmal richtigerweise am 26.01.2023 und ein zweites Mal am 27.01.2023. Ich habe das nun händisch korrigiert; allerdings sind die Informationen auf Twitter vom 27. Jänner bis gestern falsch (damit sind sie nicht allein). Ab heute sollte wieder alles stimmen. Mein Dank an den aufmerksamen Herrn Schmiedt!


Im Übrigen bin ich der Meinung, die Regierung muss die Wiener Zeitung retten.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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