Losing My Religion. Über das Opfer des Intellekts.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 926

Armin Thurnher
am 28.01.2023

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Ich weiß, es gibt Wichtigeres. Es gibt immer Wichtigeres. Das Wichtige hat immer auch den Wicht in sich. Diesen fasse man ins Auge, schon bleibt nicht mehr so viel übrig, wenn man sich wichtig macht.

Ich schaue beim Fenster hinaus und sehe die Fährte der Rehgeiß im Schnee. Ich kenne sie, ich lebe seit Jahren mit ihr in der Einschicht, ich sah, wie sie ihre Kitze ins hohe Gras setzte, ich sah die Kitze unter dem blühenden Apfelbaum spielen, sah wie sie aufwuchsen, der Mutter hinterhertrabten, sich erwachsen verabschiedeten, sah, wie sie wieder allein ihre Kreise zog. Sie hat den Park als geschütztes Gelände entdeckt und entging bis jetzt dem Jäger. Ich bin noch da, sagen ihre Spuren im Schnee. Ich freue mich.

Ihretwegen habe ich darauf verzichtet, da draußen Rosen anzupflanzen. Die Knospen sind bei Rehen als zartes Futter beliebt, die Dornen schützen sie nicht. Rosen hinter Zäunen verstecken, wer möchte das?


Rehe und Rosen verdienen Respekt.

Als Publizist verdient man keinen Respekt. Den muss man sich verschaffen. Was nicht mehr leicht ist, da einem, wenn man sich verteidigt, gleich suggeriert wird, „doch lieber klug zu sein“, „die anderen nicht weiter zu reizen“, nicht, indem man widerspricht, „alles noch schlimmer zu machen“, sich nicht peinlich zu benehmen, sich lieber für etwas zu entschuldigen, das man nicht gesagt hat, als Sturheit zu zeigen, kurz, „einfach mal die Klappe zu halten“.

Die Umstände öffentlicher Kommunikation haben sich verschärft, man hat ständig das Gefühl, in eine Falle zu laufen oder in eine Falle gelockt zu werden, von überall lauernden Wächtern auf Reizworte gescannt zu werden und bei Bedarf vergangene scheinbare Missetaten vorgehalten zu bekommen, gleich ob man sie begangen hat oder nicht.

Franz Vranitzky war es nimmermehr vergönnt, den Satz „wer Vision hat, gehört zum Arzt“ loszuwerden, obwohl er nachweislich von Rudolf Burger stammte, der sich auch öffentlich zur Autorschaft bekannte. Gern halten, um ein noch älteres Beispiel zu zitieren, Menschen Karl Kraus vor, ihm sei zu Hitler nichts eingefallen (obwohl er mit diesem Satz eine mehr als dreihundert Seiten umfassende Abrechnung mit Hitler und den Nazis eröffnete, eine der frühesten, die es gab).

Wer also das Maul aufmacht, darf sich nicht wundern, wenn ihm etwas anderes hineinfliegt als eine gebratene Taube; wenn er sich vielmehr sich gleich selber fühlt wie flambiertes Geflügel. Die Klimaerhitzung hat mich das bei der Feldarbeit spüren lassen. An gewissen Stellen des Gartens war das Mähen mit der Sense ab neun Uhr nicht mehr möglich, weil mir die Fliegen in den Mund flogen. Bei körperlicher Arbeit muss man Luft holen; insofern hat Schneeschaufeln gewisse Vorteile.

Während ich Schnee schaufelte und vor mich hin murmelte, fiel mir der Begriff des Sacrificium Intellectus ein. Opfer des Intellekts. Gestern war Holocaust-Gedenktag, deswegen erinnere ich daran, was Holocaust  bedeutet, nämlich Ganzopfer. Dieses Ganzopfer verlangte der Jesuitengründer Ignatius von Loyola im 16. Jahrhundert unter Gebrauch dieses Wortes von den Angehörigen des Ordens. Seiner Auffassung nach erreicht das Ordenmitglied den höchsten Grad des Gehorsams, wenn es außer dem Willen auch noch den Verstand opfert, also sich selbst als Gesamtopfer (holocausto) darbringt; aber sogar der strenge Jesuit schränkte ein, ein solches Opfer sei nicht möglich, wenn einen „die klar erkannte Wahrheit anders nötigt.“

Das bedeutet selbstverständlich keine Relativierung des Menschheitsverbrechens Holocaust. Das Wort wurde nur zuvor für anderes benützt. Nein, ich setze nicht die Idee, um des lieben Diskursfriedens willen seinen Willen aufzugeben und seinen Verstand zu opfern, mit der industriellen Vernichtung der Juden gleich. Ich stelle das für meine Wortumdreher, Einordner und sonstwie wachsamen Leser klar. Es tut ganz gut, um Klarheit im Ausdruck zu ringen und auf die Mütze zu bekommen, wenn man unklar formuliert. Aber den Verstand an der Kassa abzugeben, weil man Angst hat, irgendwelche schrillen Glöckner könnten an den Strippen zu ziehen beginnen, das geht doch zu weit.


Kluge Menschen haben  das Sacrificium Intellectus mit Gründen verteidigt; die meisten Gründe scheinen mir nicht gut. Ich halte es mit dem Soziologen Max Weber, den man naturgemäß nur zitieren kann, indem man ihn gendert, was mir post festum unangebracht scheint. Er meinte, die  „Virtuosenleistung des Opfers des Intellekts“ sei „das entscheidende Merkmal des positiv religiösen Menschen“, das „nur der Jünger dem Propheten, der Gläubige der Kirche“ darbringe. Wer „das Schicksal unserer Zeit, die Entzauberung der Welt, nicht männlich ertragen kann, kehre lieber schweigend in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen zurück.“

Klingt toxisch, was? Wenn wir das „männlich“ streichen oder durch „tapfer“ ersetzen, ändert sich nichts am Gedanken. Kann es sein, dass die neue kommunikative Gegenaufklärung eine neue Religion darstellt? Oder besteht sie nur darauf, neue Machtverhältnisse durchzusetzen? Wohl das zweite. Dagegen kann, dagegen muss man etwas machen. Also: nicht Maul halten. Intellekt nicht opfern.


Dem meisten Geschriebenen geht es wie den Spuren der Rehgeiß im Schnee. Das Wetter wechselt, weg sind sie. Aber das gilt nicht. Wer seine Spuren nicht wichtig nimmt, bleibt ein Wicht.

Im Übrigen bin ich der Meinung, die Regierung muss die Wiener Zeitung erhalten.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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