Wie ich alle Tage existiere.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 918

Armin Thurnher
am 19.01.2023

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Fuhr nach Wien, um den Steuerberater aufzusuchen. Praktischerweise residiert er in einem Wehrturm beim Hauptbahnhof, zu dem man sich mit einer Plastikkarte Zugang verschafft. Man erhält sie beim Portier ohne weitere Formalitäten. Die Karte öffnet ein Drehkreuz zu sechs Liften. Diese Lifte betrete man nur, nachdem man sich mit dieser Karte angemeldet hat, sonst kommt man, wie ein hilfreicher Passant mir versicherte, nie mehr raus. Also Karte anhalten. Sie ist aufs richtige Stockwerk programmiert, wenn sich der Portier nicht vertan hat, sonst aber nirgendwohin. Immerhin.

Am Empfang darf man die Karte abgeben, die brauchen Sie nicht mehr, nach der Sprechstunde wird man hinausgeleitet und der Gesprächspartner hält dem Lift seinerseits eine Karte vor, was bedeutet, man kann nur in einem einzigen Stockwerk aussteigen, auf Ebene Null. Das ist normal, Leute, nur die Plastikkarte ist überflüssig, wird bald durch Implantate ersetzt. Ich weiß das schon lange.

Im Büro wird man mit einer Art Höflichkeit behandelt, die so einstudiert praktiziert wird, dass ihr das Menschliche fremd, das Reibungslose aber zum Wesen geworden scheint. Die Klos von einer übermenschlicher Sauberkeit, die ich in keiner meiner Wohnungen je erreicht habe.

Ging dann hinaus nach Favoriten, obwohl ich im Bahnhofsgebäude hätte bleiben könne, wo die Sitzgelegenheiten spärlich sind, außer man konsumiert. Rotes Wien 2023. Draußen am Bahnsteig der S-Bahn ist es kalt, dort könnte man sitzen; drinnen im Bahnhof ist es warm, aber man muss stehen, oder zahlen.

Im Bezirk erfrischen Assemblagen aus Abfall das Auge. Sie erfrischen wirklich, weil sie, aus unschuldigen Bananenschalen, Zigarettenresten, Pappbechern und Blechdosen bestehend, nur in kleinen Nischen zu besichtigen sind, in welche die Straßenkehrer nicht reichen. Sonst alles einigermaßen sauber, bis auf die Hundescheißhaufen; man sieht die selbstbewussten Zuhälter vor sich, die ihren Köter koten lassen, das Sackerl, durch dessen dünne Plastik man die Wärme der Hundescheiße fühlt, deutlich unter beider Würde. Scheißhaufen mit Goldketterl. Oder einfach Pensionisten, die sich nicht mehr bücken können.

Wien 10,.Columbusplatz Foto © Wikipedia

Zweimal um die Ecke und man ist am Beginn der Favoritenstraße, einer Fußgängerzone der traurigen Sorte, die zum Columbusplatz hinstrebt, wo sie alle Straßenschilder entfernt und durch Firmenschilder ersetzt haben. Ich bin Columbus, wer braucht da noch ein städtisches Straßenschild. Die wehe Weite des gegen Westen offenen Columbusplatzes.

Ließ mich in den Mediamarkt hinaufrollen. Er liegt in der dritten Etage einer Art Kaufhaus, wo die verbrauchten Mienen der Verbraucher jede Handelsstatistik überflüssig machten. Überlegte kurz vor einer gebrauchten Bose-Streaming-Box, ob ich sie mitnehmen solle; entschied mich dagegen. Später bereute ich es, der Preis des Vorführgeräts war günstig, es hätte mir ins Netzwerk gepasst. Das von mir gesuchte Netzwerkgerät hatten sie nicht oder nur im Doppelpack mit einem Repeater, den ich nicht brauche; muss ich es halt online bestellen.

Dyson macht offenbar nur mehr Akku-Staubsauger, aber so etwas kaufe ich nicht, denn ich habe zwei kleine Handstaubsauger von denen, und beide haben den gleichen Kontaktfehler, der einen verrückt macht; nach wenigen Sekunden des Saugens unterbricht der Schalter den Stromzufluss, man muss neu ansetzen, und wieder und wieder, und manchmal funktioniert das Ding gar nicht mehr. Item, eure eleganten Akku-Stabstaubsauger könnt ihr behalten.

Verließ den Markt, ohne etwas gekauft zu haben, durch zwei Schleusen, immer angespannt, ob etwas aufheulen würde. Es blieb aber alles stumm. Die verblüfften Blicke der anderen in den Kassaschlangen. Die Schlangen waren nicht lang, anders als die Lautsprecherdurchsagen befürchten ließen, die ständig verlautbarten, an welcher Kassa man sich anzustellen hatte. Nahm einen anderen Rückweg zum Bahnhof, sah zum erstenmal Gras und darin ein Dutzend Hochbeete, sauber zugedeckt mit grüner Plastikplane. Studierte die Parkmöglichkeit, wenn man jemanden beim Bahnhof absetzt; das letzte Mal war ich frecherweise auf dem Behindertenparkplatz stehengeblieben.

Erblickte dann eine Filiale der Kurkonditorei Oberlaa. Voller Außenbezirksgesichter, alkoholverwaschen und mit schlechten Gebissen; andererseits ein paar hübsche Frauen, einzeln an Tischen. Ein Milieu, in dem sie sich offenbar sicher fühlen. Ich wollte nichts Süßes, bestellte mir einen Gemüsestrudel. Etwas zu viel Erdäpfel, der Strudelteig zu lappig und die Soße viel zu pappig. Karl Schuhmacher, der einst die Kurkonditorei aufbaute und ein phänomenales Patisserie-Buch schrieb, „Wiener Süßspeisen“, hätte dem Koch den Hintern versohlt.

Nun war ich eingestimmt auf den Zug nach Retz, die letzte Strecke, die noch mit Wieseln fährt, von oben bis unten zugesprayt, ohne WLAN und mit dem Sitzkomfort vietnamesischer Gefängniszellen. So existiere ich alle Tage. Im Übrigen bin ich der Meinung, die Regierung muss die Wiener Zeitung retten.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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