Lüge, Glaube, Politik

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 910

Armin Thurnher
am 10.01.2023

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Wer von Politik redet, muss von Lüge reden. Die ÖVP zum Beispiel ist für die TV-Übertragung aus Untersuchungsausschüssen, sagt ihr Hoffnungsträger Andreas Hanger. Er trägt leicht an sich als Hoffnung, denn er fügte hinzu, selbstverständlich befürworte die ÖVP diese Übertragungen nur, wenn gleichzeitig jene Wahrheitspflicht abgeschafft werde, unter der Auskunftspersonen bis jetzt stehen.

Das Motiv ist klar. Nichts wäre den Fragestellenden der Oppositionsparteien lieber, als einen der hauptberuflichen Schwanerer der Regierungspartei bei einer falschen Aussage zu ertappen, denn eine solche wäre gerichtlich als falsche Zeugenaussage zu verfolgen. Ein herbes Los, an dem Sebastian Kurz, der lügendurchbohrte Hl. Kanzler der Wahrheit, schwer trägt, während er mit Tycoonen, Emiren und Schlaucherln mondän poussiert und posiert.

Ist Politik nur noch ein Lügengewerbe, bei dem sich Erfolg im Nicht-Erwischtwerden messen lässt? Die Wahrheit ist eine abgedroschene Phrase, ein, wie uns abgebrühte Philosophen gewiss bald versichern werden, abgetragener Mantel, der niemanden mehr schmückt und den man deshalb besser teilt und verschenkt.


Foto © FPÖ

Donald Trump hat die politische Lüge zu neuen Höhen geführt, an denen sich konservative Politik nun zu orientieren hat. Wie hilflos alle Bemühungen oppositioneller Politikerinnen, „inhaltlich“ zu argumentieren! So kommt man nicht an die Macht! Sehr gefällig scheint hingegen der Versuch des Oppositionspolitikers Kickl, eines Mannes von unbeträchtlicher physischer Attraktivität, sich als Inbild eines schönen Helden hinzustellen, in einer Phantasieuniform, die ihn irgendwo zwischen dem tapferen Chef eines angegriffenen Staates und dem Kapitän eines in den unendlichen Weiten des Alls für die westliche Zivilisation kämpfenden Kommandanten positionieren soll. Die Zeile „Festung Österreich“ stellt aber richtig: er möchte nur der Kerkermeister dieser Festung sein. Wäre Österreich eine Operette, Kickl wäre ihr Frosch. Leider hat er nichts getrunken außer Entwurmungsmittel.


Kürzlich las ich im Blog des amerikanischen Historikers Timothy Snyder einen Exkurs über Trump und die Lüge:

„Es gibt jedoch einen tieferen Punkt, der die Natur der Politik betrifft, nämlich dass sie durch große Lügen, die von Autoritätspositionen aus verbreitet werden, verändert werden kann. Einer der interessanteren Abschnitte des Kongress (Anm.)-Berichts über die Ereignisse des 6. Januar ist eine Grafik, die zeigt, dass Trump immer wieder über bestimmte Betrugsvorwürfe gelogen hat, nachdem er darüber informiert wurde, dass sie falsch waren. Seine große Lüge über die Wahl, einmal geglaubt, rief zahllose kleinere Lügen oder Fantasien hervor, die sie zu unterstützen schienen.

Trump wiederholte diese spezifischeren Lügen, weil er genau diese Fiktion wollte. Er konnte sie sich nicht alle selbst ausdenken; er brauchte Hilfe. Er wartete, bis die verschiedenen Erfindungen ihn erreichten, vergewisserte sich, dass sie nicht wahr waren, und wiederholte sie dann vor Millionen von Menschen.

In Trumps Welt gibt es kein Richtig und Falsch, sondern nur eine Art darwinistischen Wettbewerb des Glaubens. Wenn eine Lüge es in der Nahrungskette bis zu ihm geschafft hat, dann muss sie gut sein, und die Leute werden sie glauben.

Die Lüge von Trump war also mehr als eine absichtliche Unwahrheit. Er bevorzugte eine große Lüge gegenüber der Realität und suchte dann nach kleineren Lügen, um sie zu verbreiten, die grundlegende Elemente der Realität in Zweifel ziehen und dadurch ein Gefühl des Unmuts erzeugen würden.“

Das ist gut gesagt. „Darwinistischer Wettbewerb des Glaubens“ kennzeichnet unsere irrationale Welt sehr schön. Politik und Journalismus müssen, unter Androhung des Scheiterns, darauf beharren, sich diesem Wettbewerb zu entziehen. Es gibt leichtere Aufgaben, zumal die Aufmerksamkeits-Mechanismen der Medien diesen Darwinismus begünstigen, weil die vermeintlich stärkeren von ihm leben. Was sie halt so „leben“ nennen. Im Übrigen bin ich der Meinung, die Regierung muss die Wiener Zeitung retten.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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