Gegen den Stammtisch: Kleiner Digest zu Atemwegsinfektionen.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 906

Armin Thurnher
am 23.12.2022

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Überraschend bricht die Seuchenkolumne ihr Festtagsschweigen. Der Grund ist gut: Atemwegsinfektionen beunruhigen derzeit viele Menschen. Epidemiologe Robert Zangerle fasst die Ergebnisse  über RSV zusammen und befasst sich auch mit der Frage, ob die Grippe tatsächlich eingedämmt werden kann. Teil 1 einer Miniserie. A. T.

»Am 1. Dezember 2022 verlautbarten Stella Kyriakides, Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Hans Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa und Andrea Ammon, Direktorin des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) eine gemeinsame Erklärung. Darin weisen sie auf den frühzeitigen Beginn der Grippesaison 2022-2023 in der Europäischen Region hin und äußern Besorgnis über die Zunahme des Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) bei kleinen Kindern. Gleichzeitig bestehe weiterhin Bedrohung durch Covid. Sie geben zu bedenken, dass es aufgrund der kontinuierlich anhaltenden Entwicklungen schwierig sei, die gesundheitlichen Folgen des neuen Winters vorherzusagen. Jedenfalls betonen sie in dieser Erklärung, dass man es sich nicht leisten könne, selbstzufrieden zu werden. Es gelte, die Bereitschaftsmaßnahmen in der gesamten Region sowie die Impfprogramme zu verstärken, wobei die am meisten gefährdeten Personen – ältere Menschen, Schwangere, Menschen mit Grunderkrankungen und Beschäftigte im Gesundheitswesen – besonders motiviert werden sollten, sich gegen die saisonale Grippe und Covid impfen zu lassen.

Keine zwei Wochen später wendet sich die europäische Seuchenbehörde (ECDC) noch einmal an EU-/EWR-Mitgliedstaaten mit folgenden Optionen für ein Vorgehen gegen die Ausbreitung von Atemwegserregern:

  • Ausführung von Risikokommunikation für die Öffentlichkeit, einschließlich der aktiven Förderung von Impfungen gegen die saisonale Grippe und Covid;

  • Sensibilisierung von Angehörigen der Gesundheitsberufe, um Fälle rechtzeitig zu diagnostizieren und eine Optimierung der Bereitschaft von Krankenhäusern, um die erhöhte Belastung im ambulanten und stationären Bereich zu bewältigen. Dies ist besonders wichtig für Kinderkrankenhäuser und Intensivstationen sowie für Pflegeeinrichtungen;

  • Sicherstellung der RSV-Prophylaxe bei Risikokindern gemäß den nationalen Richtlinien; (Anm.: siehe Schluss dieser Kolumne);

  • Umsetzung geeigneter Maßnahmen zur Infektionsprävention und -kontrolle auf der Grundlage der lokalen epidemiologischen Situation, insbesondere für gefährdete Gruppen in Gesundheitseinrichtungen, einschließlich Pflegeeinrichtungen;

  • Förderung guter Hygienepraktiken und Erwägung geeigneter nicht-pharmazeutischer Interventionen (NPIs), wie z. B. zu Hause bleiben, wenn man krank ist, gute Hand- und Atemwegshygiene einschließlich der Verwendung von Gesichtsmasken, angemessene Belüftung von Innenräumen, Nutzung von Home Office, wo immer dies möglich ist, und Vermeidung von überfüllten öffentlichen Räumen;

  • Soweit möglich, Einführung und Verbesserung der Überwachung von RSV und Tests auf Atemwegserreger (Anm.: z.B. Multiplex Tests).

Diese Empfehlungen haben aufgrund der Eingliederung Österreichs in die EU und die WHO normierenden Charakter. Bei ihrer Übersetzung ins Stammtisch-Österreichisch scheinen ein paar Dinge verloren gegangen zu sein. Viele dürften es für wichtiger halten, sich für die Verbreitung revisionistischer Thesen zur Pandemie in Österreich und nicht für die Bewältigung gesundheitlicher Folgen des kommenden Winters stark zu machen. Wo wurde der Öffentlichkeit signalisiert, dass es gelte, die grottenschlechte Rate an Grippeimpfungen zu heben und dass der Schutz vor Atemwegserkrankungen Sinn macht? Man kann es nicht oft genug sagen: Die Impfung rettet Leben. Sie verringert die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung und das Risiko einer schweren Erkrankung an Covid, aber auch an der saisonalen Grippe.

Ich will jetzt nicht alles aufzählen, was in letzter Zeit näher an den Stammtischen als an der Wissenschaft war und schon gar nicht mich in diese „Abrechnungen“ einschalten. Da vertraut die Seuchenkolumne allemal darauf, dass in den kommenden Monaten und Jahren wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, die, wie es eben für das Funktionieren von Wissenschaft typisch ist, sich über kurz oder lang durchsetzen werden. „Wissenschaftlicher Konsens“ heisst das. Trotz eines schier überwältigenden Wustes an Studien zur Pandemie bleibt tatsächlich einiges noch zu beantworten. Aus dem Folgenden ergeben sich gleich ein paar solche wichtigen offenen Fragestellungen.

Gehen wir zu den Anfängen der Pandemie: Am 3. März 2020 begann der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, eine tägliche Pressekonferenz, in der er die Länder der Welt aufforderte, mehr zu tun, um die Ausbreitung von Covid zu stoppen. Mit einem immer wiederkehrenden Refrain appellierte er an die Weltöffentlichkeit: Wenn aggressive Maßnahmen ergriffen würden, könne das Virus eingedämmt werden. Diese Möglichkeit sei einer der Hauptunterschiede zwischen Covid und der Grippe. Bei der saisonalen Grippe könne man nicht von Eindämmung („Containment“) sprechen, weil dies nicht möglich sei. Etwas mehr als eine Woche später erklärte die Gesundheitsorganisation der Vereinten Nationen Covid zur Pandemie. Das neuartige Coronavirus verbreitete sich danach in praktisch allen Ländern der Erde. Doch dann geschah etwas Überraschendes: Die Übertragung der Grippe kam auf der Nordhalbkugel im März 2020 zum Stillstand. Es stellte sich heraus, dass das Influenzavirus eingedämmt werden konnte.

Die darauffolgende Grippesaison 2020-2021 – also die erste vollständige Grippesaison während der Covid-Pandemie – hat Tedros‘ Botschaft dann nachhaltig widerlegt. Zum ersten Mal seit 1997, als die WHO ihre globale Website zur Verfolgung von Grippefällen, FluNet, ins Leben rief, gab es in diesem Winter praktisch keine Fälle an Grippe. Es ist also tatsächlich möglich, die Grippe zu stoppen. Über den genauen Grund für den beispiellosen Rückgang der Grippe in dieser Saison sind sich die Forscher bis zu einem gewissen Grad uneinig. Wahrscheinlich spielten pandemiebedingte Maßnahmen zur Eindämmung der Grippe – wie das Tragen von Masken, das Vermeiden von Reisen und Treffen in geschlossenen Räumen sowie häufigeres Händewaschen – die wesentliche Rolle.

 

Ein womöglich nicht unwesentlicher Beitrag zur Eindämmung der Grippe könnte durch das Vorherrschen von SARS-CoV-2 zustande gekommen sein. Wenn man einem Atemwegsvirus wie dem Grippevirus oder dem Covidvirus ausgesetzt ist, löst es eine erste unspezifische Immunreaktion aus. Der Körper entwickelt virusspezifische Antikörper und T-Zellen erst später, aber die frühe unspezifische antivirale Reaktion kann das das Gripperisiko verringern – für das Individuum einige Wochen lang, aber auf Bevölkerungsniveau kann das bei einer anhaltenden starken Welle auch einen anhaltenden Effekt haben. Ob es nun die Dominanz von Covid (eigentlich SARS-CoV-2) oder Verhaltensänderungen waren, die am meisten zum Ausbleiben der Grippesaison 2020-2021 beigetragen haben, und ob die Grippeübertragung tatsächlich gestoppt werden kann, bleibt offen.

Immunhistorischer Einschub: Bei der oben beschriebenen unspezifischen Immunreaktion spielen unter anderem die bekannten Interferone (vom Typ I) eine wichtige Rolle. Diese Botenstoffe wurden in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dadurch entdeckt, dass sich Viren in Zellen, die zuvor mit denselben, aber abgetöteten Viren behandelt worden waren, nicht mehr vermehren konnten. Der dafür verantwortliche Botenstoff, den die Zellen beim ersten Viruskontakt produziert hatten, war eben Interferon.

Vor Covid setzten Experten nur begrenzt auf so genannte nicht-pharmazeutische – d. h. nicht-impfbare – Strategien zur Verhinderung der Grippeübertragung. Verhaltensweisen wie Händewaschen, das Tragen von Masken und das Filtern der Luft galten zwar als gute Ideen, aber man glaubte nicht, dass sie die Ausbreitung wesentlich eindämmen würden. Vor der Pandemie konzentrierte man sich darauf, die Impfung als primäre Methode zur Verringerung der Grippeübertragung zu fördern. Heute wissen wir, dass Impfungen zwar sehr wichtig sind, dass aber zusätzliche Maßnahmen die Belastung der öffentlichen Gesundheit durch Grippe verringern können.

Vor 2020 hat es eine Handvoll Studien gegeben, in denen versucht wurde, die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu messen, aber sie waren nicht aussagekräftig. Durch die Covid-Pandemie scheint es ziemlich schlüssig zu sein, dass Strategien zur Eindämmung der Grippe wie Maskierung, soziale Distanzierung und der Aufenthalt zu Hause, wenn man krank ist, die Übertragung von Grippeviren drastisch beeinflussen können. Die auch während der Pandemie relativ konstanten Grippeimpfraten untermauern die Bedeutung nicht-pharmazeutischer Interventionen. Selbst wenn in Österreich in der Saison 2020/2021 relativ wesentlich mehr gegen Grippe geimpft wurden, blieb, im Vergleich zu anderen Ländern, die Impfrate insgesamt erbärmlich niedrig und kann für das Ausbleiben der Grippe nicht im Geringsten verantwortlich gemacht werden.

In den ersten Tagen der Pandemie war die Frage, wie sich Covid von Mensch zu Mensch ausbreitet, eines der am heftigsten diskutierten Themen unter Wissenschaftlern. Ursprünglich ging man davon aus, dass sich das Virus durch Tröpfchen in den Atemwegen ausbreitet, die beim Husten, Niesen oder Sprechen ausgestoßen werden, doch inzwischen wissen die Wissenschaftler, dass es sich auch durch noch kleinere Partikel, so genannte Aerosole, die durch die Luft schweben, verbreiten kann. Noch kann die Frage, welcher Übertragungsweg bei Grippe vorherrschend ist, nicht sicher beantwortet werden. Jedenfalls kann die Grippe, so wie Covid, auch über Aerosole verbreitet werden.

Zwar haben viele Grippeforscher dies schon vor der Pandemie erkannt, doch beschränkte sich der Nachweis meist auf eine Fallstudie aus dem Jahr 1979, bei der ein Flugzeug wegen eines Triebwerksausfalls drei Stunden lang am Boden blieb. Da die Luft in dieser Zeit nicht gefiltert wurde, entwickelten 72 % der Passagiere Grippesymptome, und fast alle getesteten Personen – einschließlich des ursprünglich erkrankten Fluggastes – waren positiv auf Grippe getestet worden. In diesem Fall wurde die Grippe ziemlich sicher über die Luft übertragen. Offensichtlich von einer Atemwegsinfektion verschont blieben Kollegen von mir am 14. Dezember dieses Jahres, als sie 5 Stunden am Rollfeld in Frankfurt ausharren mussten, weil in München, wo sie aus den USA kommend eigentlich ankommen sollten, Landungen wegen Eisregen für Stunden nicht möglich waren. Im Augenblick ist es schwer einzuschätzen, und von Luftlinie zu Luftlinie uneinheitlich wie Frischluftzufuhr und Luftfiltration am Boden gehandhabt werden, sodass das Tragen von Masken besonders in diesen Situationen (ganz generell beim Ein- und Aussteigen) von vielen Experten empfohlen wird.

Sehr interessante Ergebnisse zeitigte eine Studie (Infektiöse Viren in der Ausatemluft von symptomatischen saisonalen Grippefällen) des Teams um den Aerobiologen Donald Milton von der Universität Maryland : Sie haben festgestellt, dass Grippekranke die Luft um sich herum mit infektiösen Viren kontaminieren, indem sie einfach atmen, ohne zu husten oder zu niesen. Die Menschen müssen also mehr tun, als sich nur die Hände zu waschen und Abstand von niesenden und hustenden Personen zu halten, um sich nicht mit der Grippe anzustecken. Miltons Team rekrutierte College-Studenten, die wegen Symptomen vorstellig wurden und bei denen eine Grippe im Labor bestätigt wurde. Donald Milton hat ein Gerät entwickelt, das Viruspartikel aufspüren kann, die beim Atmen, Husten und Niesen aus dem Körper kommen. Er hat das Gerät „Gesundheit II“ genannt, um eine ursprüngliche Gesundheitsmaschine aus den 60-er Jahren zu würdigen. Der Nachweis infektiöser Viren gelang in 39 % der feinen (<5 µm) Aerosolproben, die während einer 30-minütigen normalen Atmung entstehen. Das belegt eindeutig, dass ein signifikanter Anteil der Influenza-Fälle routinemäßig infektiöse Viren – und nicht nur nachweisbare RNA – in Aerosolpartikel abgibt, die klein genug sind, um in der Luft zu schweben und ein Risiko für eine Übertragung über die Luft darzustellen. Diese Daten wurden erhoben, ohne dass die Probanden durch ein Mundstück atmen oder erzwungene Hustenanfälle durchführen mussten, also sehr den wirklichen Verhältnissen entsprechend. Niesen und Husten sind also keine Voraussetzung zur Ausscheidung von Grippeviren in Aerosolen. Niesen könnte einen Beitrag zur Oberflächenkontamination leisten. Im Moment ist sich die wissenschaftliche Gemeinschaft in diesen Fragen bzw. in der Gewichtung der bisher vorliegenden Daten einfach nicht einig.

In eine ähnliche Kerbe schlägt eine Studie aus einem schwedischen Krankenhaus, die zeigte, dass zu den wichtigsten Risikofaktoren für die Übertragung von SARS-CoV-2 über die Luft eine geringe räumliche Distanz, eine hohe Viruslast des Patienten und eine schlechte Raumbelüftung gehören. Aerosolerzeugende Verfahren wie mechanische Beatmung, High-Flow-Nasenkanüle, Behandlungen mit Verneblern oder nichtinvasive Beatmung schienen von untergeordneter Bedeutung zu sein. Es wurde ein schwacher Zusammenhang zwischen Übertragung von SARS-CoV-2 und einem Training mit positivem Ausatmungsdruck gefunden, für Bronchoskopien, In- und Extubationen wurde lediglich ein Trend festgestellt. Es sind wirklich viele Fragen offen.

Erstaunen, ja Irritation rief ein weiteres Resultat der Studie von Milton’s Gruppe hervor. Sie fand einen Zusammenhang zwischen der aktuellen und der Vorjahresimpfung und der erhöhten Ausscheidung von Influenza A Viren, was sie vermuten ließ, dass bestimmte Arten von Immunität die Entzündung der Lunge, den Verschluss der Atemwege und die Aerosolbildung fördern. Diese erste Beobachtung eines solchen Phänomens ist durch weitere Studien noch nicht bestätigt.

Die während der Pandemie gewonnenen Erkenntnisse über Methoden zur Begrenzung der Übertragung durch Aerosole durch HEPA- und UV-Luftfilter sowie über die Kontrolle der Luftfeuchtigkeit und Frischluftzufuhr in Innenräumen gelten sehr wahrscheinlich genauso auch für Grippe.

Kommen wir zum Respiratorischen Synzytium-Virus (RSV), einem der wichtigsten Verursacher von Atemwegserkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern , wo bei schwereren Verläufen aufgrund der engen und kurzen Atemwege häufig die Bronchien und die kleineren Bronchiolen in Mitleidenschaft gezogen werden, was die Sauerstoffaufnahme behindern kann. Ältere Erwachsene, Menschen mit geschwächtem Immunsystem und Menschen mit Herz- oder Lungenerkrankungen sind ebenfalls stärker durch RSV gefährdet. RSV-Infektionen treten zyklisch auf. In Mitteleuropa war bisher die Inzidenz von November bis April am höchsten. Der Gipfel der RSV-Saison erstreckt sich über etwa 4–8 Wochen. In den letzten Jahren wurde auch ein früherer Beginn der RSV-Saisonen beobachtet, im September und Oktober, oder noch früher.

Laut dem Robert Koch-Institut erfolgt die Übertragung in erster Linie durch Tröpfcheninfektion von einer infektiösen Person auf eine Kontaktperson. Konjunktiven der Augen und Nasenschleimhäute bilden die Eintrittspforte. Es wird angenommen, dass eine Übertragung auch indirekt über kontaminierte Hände, Gegenstände und Oberflächen möglich ist. RSV kann in respiratorischem Sekret 20 Minuten auf Händen überleben, 45 Minuten auf Papierhandtüchern und Baumwollkitteln und bis zu mehreren Stunden auf Einmalhandschuhen, auf Stethoskopen und auf Kunststoffoberflächen. Jugendliche und Erwachsene spielen als asymptomatische oder symptomarme Überträger eine Rolle. Medizinisches Personal und andere Kontaktpersonen der Patienten können somit zu einer raschen Ausbreitung auch im Krankenhaus beitragen, wenn Schutz- und Hygienemaßnahmen lückenhaft sind. RSV-Reinfektionen sind häufig und kommen in jedem Lebensalter vor. Bei Kindern kommt es auch bei Reinfektion häufig zu Erkrankungen der unteren Atemwege, die jedoch meist weniger schwer als bei der Primärinfektion verlaufen.

Die Häufigkeiten von RSV-Infektionen und Grippe zwischen Februar 2020 und Jänner 2022 ist in der nächsten Abbildung als Heatmap (häufigeres Auftreten mit stärkerer Farbkonzentration gegen rot hin) in 14 Ländern der nördlichen Halbkugel dargestellt. Während in den meisten Ländern in der Saison bis zum Jänner 2022 RSV-Ausbrüche beobachtet werden konnten, besonders stark in Südkorea, waren messbare Grippewellen bis zu diesem Zeitpunkt nur in 4 der 14 Ländern zu beobachten (Schweden, Russland, Frankreich und Mexico). In der Saison 2021/2022 wurde in Südkorea eine endemische Übertragung von RSV, aber nicht von Grippeviren beobachtet. Der Grund für die unterschiedlichen Infektionsraten von RSV und Grippeviren ist unklar.

Die im Vergleich zu anderen Ländern der Nordhalbkugel relativ späte, aber heftige Verbreitung von RSV in Südkorea, dürfte den Public Health Maßnahmen geschuldet sein, weil erst ab Jänner 2022 die Intensität der nicht-pharmazeutischen Interventionen (NPIs) gelockert wurde. Lediglich die Regeln für Quarantäne von Überseereisenden/Einwanderern für 1-2 Wochen und die Überwachung ihrer Symptome waren in Kraft. Dieser Umstand bietet eine gute Gelegenheit, die Häufigkeit des Auftretens von RSV und Grippeviren zu beobachten, wenn die inländischen NPIs gelockert werden, während die Einschleppung dieser Viren aus dem Ausland weiterhin weitgehend blockiert ist.

Im Prinzip beruht die Erfassung von Atemwegserkrankungen (Acute Respiratory Illness – ARI oder Influenza-Like Illness – ILI) auf der ganzen Welt auf freiwilligen Stichproben eines Wächtersystems (Sentinella-System), wo versucht wird, möglichst für die Bevölkerung repräsentativ, 3 Abstriche und/oder Informationen zum klinischen Bild zu sammeln. Das ist bei Covid anders, weil die Infektion mit SARS-CoV-2 zu den meldepflichtigen Erkrankungen gehört. Bei RSV ist das selten der Fall, in Australien ist eine RSV-Infektion seit 1. September 2022 meldepflichtig. Da 2021 sich das Testverhalten der beteiligten Institutionen verändert haben mag (es wird wahrscheinlich mehr getestet), rückt die Positivitätsrate in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (Anteil positiver Fälle unter allen getesteten Fällen), die meist auch ausgewiesen wird.

In der folgenden Abbildung findet man die wöchentlichen Trends des Respiratorischen Synzytial-Virus aus dem koreanischen Atemwegsvirus-Überwachungssystem, vom Februar 2016 bis Jänner 2022. Die hellblaue Farbe steht für 95%ige Konfidenzintervalle des vorhergesagten Wertes und die dunkelblaue für 80%ige Konfidenzintervalle des vorhergesagten Wertes. Links die RSV-Positivitätsraten in der probenbasierten Überwachung und rechts die RSV-bedingten Hospitalisierungsfälle in der klinischen Überwachung,

Der RSV-Ausbruch begann Ende November 2021 und erreichte seinen Höhepunkt in der dritten Januarwoche 2022 mit einer wöchentlichen Positivitätsrate von 61 % bei der probenbasierten Überwachung, deutlich über der langjährig beobachteten Rate. Die Krankenhauseinweisungen wegen RSV-Infektionen lagen deutlich unter den Werten vor der Pandemie, jedoch aufgrund der kleinen Zahlen im statistisch erwartbaren Bereich (innerhalb des Konfidenzintervalls). Sehr ähnliche Beobachtungen wurden in Japan gemacht, wo die Welle noch im Sommer 2021 begann, 2022 ebenfalls zu diesem frühen Zeitpunkt, aber im Ausmaß kleiner als 2021 und vergleichbar mit den Jahren vor der Pandemie. In Südkorea trat die Welle, anders als 2021 bereits im späteren Sommer auf und war deutlich kleiner (man kann nicht sicher ausschließen, dass innerhalb des Winters 2022/2023 eine weitere Welle auftritt, obwohl das bisher nie der Fall war.) Die großen Wellen an RSV-Infektionen ohne Aktivität der Grippeviren traten jeweils vor den ersten großen Coronawellen in diesen beiden Ländern auf.

Rücken wir langsam Österreich näher: Schweden (ach Schweden!). Während der Ausbruch einer RSV-Welle 2021 in Schweden Anfang September losging, passierte das 2022 erst Ende Oktober. Die folgende Abbildung zeigt links die Zahl der RSV Fälle pro Woche und rechts den Anteil positiver Proben . Die Zahl der erfassten RSV-Fälle nahm seit der Kalenderwoche 44 stark zu, wobei in den Wochen 48 und 49 ein sehr starker Anstieg zu verzeichnen war. In Woche 49 wurden insgesamt 12.484 Proben auf RSV untersucht, das waren 24% mehr als in Woche 48. Der Anteil der positiven Proben lag in Woche 49 bei 7% gegenüber 6% in Woche 48. Der starke Anstieg ist also zum Teil durch vermehrtes Testen bedingt, und noch bleibt es unklar, wann ein Maximalwert erreicht wird. In Dänemark geht die Zahl der RSV-Fälle nach einem frühen Saisonbeginn mit einem Höhepunkt in Woche 45 weiter zurück.

In Woche 49 wurden 926 RSV-Fälle gemeldet, ein Anstieg um 64% im Vergleich zu Woche 48. 55% (509 Fälle) der in Woche 49 gemeldeten Fälle waren Kinder unter fünf Jahren und 26% (241 Fälle) Kinder unter einem Jahr. Auf die Altersgruppe 65 Jahre und älter entfielen 22% (205 Fälle). Bisher wurden in dieser Saison (Wochen 40-49) insgesamt 2.627 RSV-Fälle gemeldet. Ein großer Teil der Fälle betrifft Kleinkinder: 62% (1.627 Fälle) waren Kinder unter 5 Jahren und 31% (826 Fälle) Kinder unter 1 Jahr, von denen die Hälfte (412 oder 16%) bei Säuglingen im Alter von 0 bis 3 Monaten festgestellt wurden. Ältere Menschen haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko für eine schwere RSV-Erkrankung, und bisher sind 19 Prozent (501 Fälle) der RSV-Fälle bei Menschen über 65 Jahren aufgetreten. In der Altersgruppe der unter 5-Jährigen wurden in dieser Saison bisher deutlich mehr RSV-Fälle bei Jungen (53%) gemeldet, und der größte geschlechtsspezifische Unterschied ist bei Kindern unter einem Jahr zu beobachten, wo 57% Jungen sind.

Und wie ist die Verbreitung von RSV in Österreich? Es gibt ganz ähnlich dem DINÖ (Diagnostisches Influenzanetzwerk Österreich) ein ÖRSN (Österreichisches RSV Netzwerk), hauptverantwortlich für beide Netzwerke ist die Virologin der Medizinischen Universität Wien, Monika Redlberger-Fritz. Eine lobenswerte Initiative, keine Frage. Die Zahl der teilnehmenden niedergelassenen Praxen, Krankenhäusern und Laboren ist ordentlich. Man hätte schon so seine Wünsche (Altersgruppen, Testzahlen, Hospitalisierungen), aber die wird das Netzwerk auch haben. Arbeitshypothese: man hat es in der Pandemie verabsäumt, solche Initiativen öffentlich stärker zu unterstützen. Die aktuellsten Zahlen lassen einen bereits erreichten (oder zumindest) baldigen Höhepunkt der RSV-Saison erwarten. Die heurige RSV-Saison begann Anfang November zwei Monate später als 2021. Man sieht 2022 mehr Testungen gegenüber 2021, die Zahl der positiven Fälle ist insgesamt höher als 2021, aber die derzeitige Positivitätsrate ist nur halb so hoch ist wie 2021 (deutlich unter 20%). Insgesamt dürfte das Ausmaß an RSV-Verbreitung 2022 und 2021 ähnlich sein, wenngleich Vorstände von Neonatologieabeilungen von mehr Fällen 2022 als 2021 berichten.

Es ist schwierig, RSV-Infektionen im Alltag gänzlich zu vermeiden. Das Robert Koch-Institut empfiehlt:

  • Enger Kontakt zu Erkrankten sollte möglichst vermieden werden. An Familienfesten sollten nur Gesunde teilnehmen.

  • Waschen Sie sich regelmäßig und gründlich die Hände und unterstützen Sie Ihr Kind dabei.

  • Augen, Nase und Mund sollten möglichst nicht mit ungewaschenen Händen berührt werden.

RSV ist schon seit Jahrzehnten ein Problem. Warum werden erst jetzt Impfstoffe entwickelt? Die Entwicklung eines RSV-Impfstoffs wurde nach einem schrecklichen Misserfolg in den 1960er Jahren erheblich zurückgeworfen: in einer klinischen Studie an Säuglingen mit einem Totimpfstoff erkrankten 80 % der geimpften Kinder im auf die Impfung folgenden Winter an RSV so schwer, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Im Vergleich dazu landeten nur 5 % der Kinder, die das Placebo erhielten und sich dann mit RSV infizierten, im Krankenhaus. Dieser Misserfolg brachte die Bemühungen um die Entwicklung eines RSV-Impfstoffs zum Stillstand. Es war dann ein langer Weg zu einem proteinbasierten Impfstoff („Subunit Vakzine“), denn es galt das Oberflächenprotein F in seiner sehr instabilen, aber während der Infektion aktiven, Präfusionsform zu charakterisieren und einen Weg zu finden, dieses Präfusions-Protein zu stabilisieren. Pfizer berichtete über eine Phase III Studie bei Schwangeren, deren Antikörper auf ihre Kinder übertragen werden. Diese Strategie zeigte in den 90 Tagen nach der Geburt eine Wirksamkeit von 81,8 % gegen schwere Fälle von RSV. In Phase III Studien bei Erwachsenen über 60 Jahre wurde für den Impfstoff von Pfizer eine Wirksamkeit von 85,7 % bei der Verhinderung schwerer Erkrankungen und beim Impfstoff von GSK von 94,1 % berichtet. Mit einer Zulassung für Impfstoffe der Firmen Pfizer und GSK wird vor Mitte des nächsten Jahres gerechnet.

Bei Kindern, die ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf einer RSV-Infektion haben, kann während der RSV-Saison die vorsorgliche Gabe einer passiven Impfung erwogen werden. Dabei handelt es sich um monoklonale Antikörper gegen das Oberflächenprotein F, die vor schweren Verläufen schützen können: Palivizumab, das monatlich verabreicht werden muss und ganz neu zugelassen Nirsevimab  dessen Wirkung über 5 Monate anhält (also fast immer eine ganze RSV Saison), aber erst ab Anfang 2023 verfügbar sein wird.

Morgen geht’s weiter.« R. Z.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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