Marginal, epigonal, scheißegal?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 902

Armin Thurnher
am 06.12.2022

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Der immer lustige Stefan Niggemeier schrieb im immer lesenswerten Webmedium Übermedien, das in deutschadäquater Tongue-in-Cheek-Nietzsche-Pose, wie der Name sagt, über Medien berichtet, was ich für außerordentlich verdienstvoll halte, weshalb ich auch ein Abonnement empfehle, wenngleich Sie am halbironischen Tonfall dieser Zeilen bemerken mögen, dass ich in dieser Woche nicht ganz einverstanden bin mit Niggemeier, etwas über Marginalspalten.

Nämlich:

»Ich würde heute gerne mit Ihnen über Besucherritzen reden.

Ich meine die Spalten mit Raum für Notizen, die sich seit einiger Zeit in Zeitschriften und Zeitungen breit machen, oder besser gesagt: schmal. Beim „Spiegel“ zum Beispiel gehören diese „Marginalspalten“, wie sie wohl offiziell heißen, seit dem Relaunch vor einem Jahr zum festen Repertoire. Sie bringen Weißraum auf die Seiten und lassen sich mit allerlei Zeug wie Fotos, Bildunterschriften, Statistiken, Karten oder Zitaten bestücken.

Der Berliner „Tagesspiegel“, der seit Dienstag im kleinen Tabloid-Format erscheint, hat als Teil seiner Neugestaltung den Einsatz dieser Besucherritzen auf die Spitze getrieben: Mit wenigen Ausnahmen hat jede Seite ein viereinhalbspaltiges Layout, das heißt: vier Spalten Text, eine halbe Spalte Weißraum, die mit Tand gefüllt werden muss.

Bonusinformationen und briefmarkengroße Fotos werden hier eingefüllt, Zitate und, wenn sich sonst gar nichts findet: Zahlen.

Zahlen gehen immer.«

Und dann amüsiert uns Niggemeier, indem er die Zahlen einer einzigen Tagesspiegel-Ausgabe aufzählt. Das ist in der Tat inflationär, phantasielos und nicht lustig. Und er kommt zum Schluss:

»Sie ahnen es: Ich bin kein Fan. Ich mag es nicht, wenn eine Zeitung so vollgerümpelt ist mit Zeug, das wohl vor allem eine optische Abwechslung sein soll, dabei aber seinerseits so monoton ist. Auf ohnehin kleineren Zeitungsseiten gibt es viel mehr Bonus-Elemente, die die Leser irgendwie dazu verführen sollen, sich auf die eigentlichen Artikel einzulassen, die dafür extra Platz lassen – selbstbewusst wirkt das nicht.«

Mittelalterliche Vulgärmarginalie Foto: Bodleian Library, Oxford

Als der Falter 2008 seinen großen Relaunch machte, grafisch betreut von Dirk Merbach, der von der Zeit zu uns kam, da griffen wir das Element der Marginalspalte auf und machten es nicht gerade zu einem Programm dieses Relaunchs, aber wir ideologisierten es. Die wiederbelebten Marginalien sollten ein Manifest für Druckkultur sein, also gerade das Gegenteil dessen, was Niggemeier geißelt. Ich schrieb damals:

»Für die Neuerfindung der Wochenzeitung reicht das alles noch nicht. Sie steht in der medialen Zeitenwende in Konkurrenz zum Web X.0 und zu als Wochenmagazinen maskierten Tagesblättern. Sie ist umgeben von durchkommerzialisierten Printprodukten, die erst den Kopf und dann den Hals verlieren. Um uns davon abzusetzen, bezogen wir uns auf die Urgeschichte der Schrift und des Drucks. Die Marginalspalte (rechts) erinnert an die Übung von Druckern und von manuskriptschreibenden Mönchen, Geheimzeichen an den Papierrand zu setzen.«

Die Rückwendung war selbstbewusst. Wir wollten zeigen, dass in den multiplen Botschaften der Marginalien sich schon vom Anfang der Gutenberg-Sphäre an so etwas wie Hypertext verbarg. Und dass die Möglichkeiten der Druckwelt noch lange nicht ausgereizt waren. Gedacht war, in die Marginalspalten Weiterführendes aller Arten zu packen, von Quellenangaben bis zu Tagebuchnotizen der Schreibenden, von kleinen Fotos, die sich zu einer eigenen Erzählung zusammenfügen, bis zu Hinweisen mit Linien in die Texte hinein, von Statistiken, die man nicht als Illustration einsetzen wollte bis zu, jawohl, hervorgehobenen Zahlen, von Zitaten bis zu biografischen Notizen. Manchmal glückte es besser, manchmal verkam es zur routinierten Geste. Aber das spricht nicht gegen die Marginalspalte, das spricht nur gegen die, die sie nicht ihren Möglichkeiten entsprechend verwenden.

Im Übrigen bin ich der Meinung, die Republik muss die Wiener Zeitung retten.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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